Das Ritual

 

© Silke Herbst 2005

 

Alles begann eigentlich ganz harmlos. Schon meine Uroma sagte mit Hilfe von Karten die Zukunft voraus. Meine Großmutter führte diese Tradition mehr im Geheimen weiter und mein Vater verschrieb sich der Hypnose und der Telepathie. Ich wuchs also geradezu mit diesen Themen auf ohne ihnen eine besondere Bedeutung beizumessen. Heute weiß ich, ich hätte es besser getan, so mancher Ärger wäre mir erspart geblieben. Früher war es ganz witzig, wenn mich plötzlich eine Art Trance überfiel. Ich wusste nie, wann und wo es passieren würde. Plötzlich war dieser Zustand da und nichts war mehr so wie vorher. Ansonsten war ich ein ganz normales Kind und wollte es eigentlich auch bleiben. So richtig angefangen hatte es im Ater von sechzehn Jahren. Ich schwärmte für Musik und war unheimlich verknallt in den Schauspieler Mr. L., von mir auch heimlich Soli genannt. Neben den üblichen Musikgruppen, verteilten sich seine Poster überall in meinem Zimmer. Eines Nachmittags besuchten mich zwei meiner Freundinnen. Wir spielten das „Spiel des Lebens“. Vom Grundsatz her ein völlig normales Spiel. In der Mitte befindet sich ein Rad zum Drehen mit den Ziffern Eins bis Zwölf, so eine Art Miniglücksrad, nur mit Zahlen. Der Spieler darf seine Figur um die gedrehte Zahl an Feldern fortbewegen. Vielleicht war dieses Spiel einfach nicht für mich geeignet. In fröhlicher Runde spielten wir eine ganze Weile. Langsam spürte ich, wie sich das Spielbrett von mir zu entfernen schien. In meinen Ohren hörte ich nur noch das Knacken des Rades. Verzweifelt versuchte ich dem Spielverlauf zu folgen, aber alles um mich herum lag im Nebel. Die Stimmen der anderen drangen nur von weitem zu mir her. Ich rieb mir die Augen, aber mein Zustand änderte sich nicht. Für mich gab es nur noch das laute Knacken und das sich drehende Rad. Das Knacken wurde leiser und der Zeiger pendelte sich auf die Sechs ein.

„Eine Sechs“, sagte ich laut.

Im gleichen Moment war ich wieder in der Realität. Das Spiel lag wieder klar und deutlich vor mir. Verwirrt musste ich feststellen, dass sich das Rad noch drehte. Fröhlich surrte es noch im Kreis. Kurze Zeit später blieb es auf der Sechs stehen. Okay, ein Zufallstreffer. Der Nächste war am Zug und drehte. In mir fand der gleiche Prozess statt.

„Knack, knack, knack“, bohrte sich das Drehgeräusch in mein Gehirn.

„Eine Zehn“, schoss es aus meinen Mund und es kam die Zehn.

So spielten wir eine Stunde. Danach fanden meine Freundinnen meine Vorhersagen unheimlich und mir war schlecht. Ich brauchte dringend frische Luft. Das waren die ersten Anzeichen meines ganz normalen alltäglichen Irrsinns. Im Laufe der Jahre häuften sich diese Eingebungen. Erbahmungslos schlugen sie zu, wann immer sie nicht zu brauchen waren. Meine Empfindungen wurden immer sensibler und konkreter. Nicht, dass ich mich damit schon genug bestraft fühlte, nein es wurde noch schlimmer. Eines Abends saß ich mit Freunden gemütlich zusammen. Wir unterhielten uns, als die Worte meiner Freundin laut und deutlich zu mir vordrangen. Entsetzt sah ich sie an, warum unterbrach sie mich?

„Was hast du? Du schaust mich so komisch an“, bemerkte sie.

„Wieso fällst du mir so ins Wort?“, fragte ich verärgert.

„Ich habe doch überhaupt nichts gesagt.“

„Nein“, bestätigte ihr Freund, „sie hat wirklich kein Ton gesagt.“

„Doch.“

Ich wiederholte, was sie meiner Meinung nach von sich gegeben hatte. Ihre Augen wurden immer größer.

„Das habe ich nicht gesagt, aber genau so habe ich es gedacht.“

Ich schluckte: „Bitte denke etwas leiser. Deine Gedanken stören mich bei meiner Unterhaltung.“

Diese neue Eigenschaft bescherte mir nicht besonders viele Freunde. Entweder wollten sie nichts mehr mit mir zu tun haben oder sie belächelten mich einfach. Und auch sie tritt ohne Vorwarnung ein und lässt sich nicht kontrollieren. Ich bereute zutiefst, die Informationen meiner Großmutter nicht abgespeichert zu haben.

Später fing ich dann noch an, mich mit frisch Verstorbenen zu unterhalten. Jetzt konnte nur noch eins helfen: Ein Ritual. Also, auf in den nächsten Buchladen, wobei sich dort die Auswahl der Fachbücher sehr begrenzt hält. Nachdem alle in Frage kommenden Rituale sorgfältig von mir studiert wurden, fiel die Entscheidung auf ein Schutzritual. Es sollte mir helfen, diese verfluchten Eigenschaften zu kontrollieren. Mit viel Mühe wurde das Ritual von mir vorbereitet. Das Ziel meiner Arbeit sollte ein Schutzamulett sein. Nachdem die Formeln gesprochen waren, füllte eine seltsame Energie meinen Schutzkreis. Die Erdanziehungskraft schien sich zu verdoppeln und zwang mich auf den Boden. Alle Bemühungen sich wieder aufzurichten waren vergebens. Eine höhere Macht hielt mich fest und der Versuch das Ritual zu beenden, scheiterte kläglich. Ich war gefangen in meinem eigenen Schutzkreis. Schließlich setzte eine Art Trance ein, aber sie war anders als sonst. Dunkelheit hatte vom kompletten Wohnzimmer Besitz ergriffen. Das letzte, was ich sah, war ein Bild von Soli, das direkt neben dem Amulett stand. Nur die gute, alte Wanduhr war weiterhin zu erkennen. Ihre Zeiger umrundeten das Zifferblatt in einer angsteinflössenden Geschwindigkeit. Fremdartige Wesen mit schwarzen Flügeln und gefährlichen Reizzähnen umschwirrten mich. Aus ihren wolfsartigen Gesichtern starrten mich ihre kleinen, bösartigen, roten Augen an und durch das Fell ihrer Tatzen blitzten scharfe Krallen, die immer wieder nach mir griffen. Noch konnten sie meinen Kreis nicht durchbrechen, doch wie lange konnte ich ihn noch aufrechterhalten?  Die Energie im Kreis zehrte immer mehr an meinen Kräften. Langsam schwanden meine letzten Reserven und die Wesen kamen immer näher, als von weitem ein kleines Licht aufblitzte. Wie ein heller Diamant strahlte es in der Dunkelheit. Eine angenehme Wärme umfing meinen Körper, als mich der erste Lichtstrahl traf. Augenblicklich wurde ich in eine andere Welt versetzt. Die Zeiger der Wanduhr blieben kurz stehen, aber nur, um sofort mit einer noch höheren Geschwindigkeit rückwärts zu laufen. Irgendetwas hatte die Zeit herumgedreht. Mit rasendem Tempo baute sich das Haus um mich herum ab. Stein für Stein wurde es abgetragen. Auch der zweite und der erste Weltkrieg zogen an mir vorbei. Etwas später befand ich mich mitten in einer Ritterschlacht, dann eine Weile auf dem Meeresgrund und flugs in einem dunklen Wald. Plötzlich verlangsamte sich das Tempo der Wanduhr. Abrupt blieben beide Zeiger auf der Zwölf stehen. Ein lauter Gongschlag dröhnte durch die Leere und weckte mich aus meiner Trance. Der Gong verstummte und die Uhr lief weiter, so als wäre nichts geschehen.

„Tack, tack, tack“, hallte die Bewegung des Sekundenzeigers dumpf in meinen Ohren.

Ich stand mitten in einer kleinen Waldlichtung. Rauschschwaden umnebelten mein Gesicht und es roch unangenehm nach verbranntem Fleisch. Etwas weiter, in einer größeren Lichtung, loderten große Feuer und die schmerzerfüllten Schreie von Menschen klangen zu mir herüber. Das Licht der Flammen drang durch das Dickicht und sein Schein gab mir eine leichte Sicht. Vorsichtig sah ich mich um. Hinter mir schlossen hohe Tannen die bedrohliche Kulisse des Waldes. Auf den Zweigen schienen unbekannte Geschöpfe zu sitzen. Nur das Weiß ihrer Augen war in der Dunkelheit der Bäume zu erkennen. Gebannt verfolgten sie jeden meiner Schritte. Angst schnürte mir die Kehle zu und mein Puls raste. Wo war ich hier?  Was war passiert? Aus der Lichtung kroch nun ein kalter Nebel zu mir herüber. Die Unebenheiten des Bodens ragten wie Grabsteine aus ihm hervor. Wie kleine Hände schienen die Nebelzungen nach mir zu tasten. Wildes Stimmengewirr drang vom Boden empor: „Lauf Hexe, lauf um dein Leben. Sie werden dich kriegen und dann wirst du brennen, wie all die anderen. Du wirst schon sehen.“

Eine kleine Gruppe Menschen machte sich auf in meine Richtung. Ihre fröhlichen Gesänge gaben mir Hoffnung. Vielleicht konnten sie mir meine Fragen beantworten oder wussten zumindest einen Weg, der mich nach Hause bringen würde. Die Schritte der Gruppe kamen näher. Sie waren mir Fackeln ausgerüstet und hatten mich fast erreicht, als ein Mann aus der Gruppe schrie: „Herr, da ist noch eine von den Hexen. Wir haben sie übersehen. Los fangt sie.“

„Woher weiß er, dass es sich hier um eine Hexe handelt?“, fragte einer der anderen Männer.

„Meine Augen haben sie erkannt. Sie hat meinen Bruder verwünscht, seitdem ist sein Verstand von Dämonen besessen. Ferner seht Euch ihr Gewand an. Ziemt es sich für eine Frau, solch Bekleidung zu tragen?“

Verwundert sah ich an mir herunter. Was war an Jeans und Top nicht in Ordnung? Wo lebten diese Männer eigentlich?

Der andere Mann begutachtete mich und nickte überzeugt: „Er hat Recht. Ein solches Gewand kann nur aus der Schneiderei des Satans stammen. Sie soll brennen.“

Die Männer hoben die Fackeln und stimmten sich in eine Art Kampfgeschrei ein. Mein Herz schlug wild und die Angst trieb mir den kalten Schweiß auf die Stirn. Gegen die Anzahl der Männer war ich machtlos. Wie eine wild gewordene Horde Rindviecher, stürmten sie auf mich zu. Es erweckte sich nicht der Eindruck, dass hier ein Recht auf eine faire Verhandlung mit Pflichtverteidiger bestünde und vom Grundgesetz hatten sie wohl auch noch nichts gehört. Mein Adrenalin hatte seinen Höhepunkt erreicht. Noch immer wirkte der Wald bedrohlich, aber ich hatte keine andere Wahl, ich rannte auf ihn zu. Noch immer saßen die Augen auf den Zweigen und sahen spöttisch auf mich herab. Ich wusste nicht, was dort zu erwarten war, aber die Verfolger trieben mich erbarmungslos immer tiefer in den Wald hinein. Der Nebel hatte mittlerweile meine Knie erreicht. Wie mit tausenden glitschigen Armen umschlang er meine Beine und schien sie festhalten zu wollen. Und noch immer zischelte dieses Stimmengewirr aus dem Nebel heraus: „Du schaffst es nicht, du schaffst es nicht. Sie werden dich kriegen. Hell brennt das Feuer, dann ist es für uns Essenszeit.“

Mir erschienen diese Worte schon wie ein Chorgesang, der mich deutlich zermürbte. Sogar der Wald lehnt sich auf. Die Wurzeln der Bäume stellten sich mir in den Weg und brachten meine Füße zum Stolpern. Die Baumstämme zogen dabei gehässige Grimassen und schlugen mit ihren Zweigen nach mir. So ging kostbare Zeit verloren. Die Verfolger rückten unterdessen immer näher. Flink und ohne Hindernisse durchkreuzten sie den Wald. Warum war die Natur nur so grausam zu mir? Ich habe bisher jedes Lebewesen geachtet. Jede Spinne war willkommen und jede Assel wurde sorgsam vor die Tür gesetzt. Also, wieso hatten sich hier alle gegen mich verschworen? Die Peitschenhiebe der Äste hinterließen Spuren auf meinen Armen. Langsam floss das Blut an mir herunter und die Wunden brannten. Ein höhnisches Lachen hallte aus dem Dunkel der Bäume hervor. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Panisch vor Angst rief ich die Erzengel an und bat um ihren Schutz, aber nichts geschah. Meine Kräfte schienen in dieser Welt nicht zu funktionieren. Ich war verloren. Die wilde Menge hatte mich nun erreicht und bildete einen Kreis um mich herum. Schimpfend und spuckend beratschlagten sie, wie sie mich am Besten hinrichten sollten. Kalt und schleimig umschlang der Nebel meine Knie und das Stimmengewirr verstummte. Ein Gefühl der Resignation machte sich in mir breit. Müde und leer wartete ich auf mein Todesurteil. Man entschied sich für den Scheiterhaufen. Zwei der Männer kamen auf mich zu. Schmatzend wich der Nebel etwas zurück. Mit roher Gewalt wurde ich überwältigt und an den Händen gefesselt. Wie eine Kuh trieben sie mich mit Stockschlägen und weiteren Beschimpfungen in die Lichtung zurück. Fieberhaft arbeitete mein Gehirn an einem Fluchtplan, leider vergebens. Nachdem wir die Lichtung erreicht hatten, banden sie mich an einen Pfahl und stapelten sorgfältig Holz um meine Füße. Schließlich war es so weit, unter merkwürdigen Gesängen kamen seltsam gekleidete Männer auf mich zu. Sie trugen schwarze, lange Gewänder. Einer von ihnen trug eine Fackel. Eine Kapuze verbarg sein Gesicht bis zur Nase. Sein Kopf war leicht nach unten gesenkt. Die sichtbare untere Gesichtspartie kam mir seltsam vertraut vor. Wo hatte ich sie nur schon einmal gesehen? Bei seinem Anblick fühlte ich eine gewisse Sicherheit und Wärme oder lag es am Feuer, welches ich gleich spüren sollte? Zielstrebig bewegten sich die Männer auf den Scheiterhaufen zu. Einen halben Meter vorher blieben sie stehen. Der Gesang verstummte und es herrschte kurz eine unerträgliche Stille. Plötzlich schrie die ganze Menge: „Brenn, brenn, brenn!“

Der Mann hob die Fackel und näherte sich dem ersten Holzstapel. Von der Menge angefeuert beugte er sich herunter, um das Feuer zu zünden. Ich konnte die Hitze schon förmlich auf meinen Körper spüren. Euphorisch tobte die Menge weiter. Dann zündet er das Feuer. Für einen kurzen Moment sah er dabei auf. Fassungslos sah ich in sein Gesicht, während die Flammen sich ausbreiteten. Es war Soli und ein vergnügtes Funkeln lag in seinen Augen. Fröhlich zwinkerte er mir zu. Mit einem Satz drehte er sich um und schlug die Fackel den Männern entgegen. Irritiert wichen sie zurück. Unverständliches Murmeln machte sich in der Masse breit. Er nutzte den Moment der Verwirrung für sich. Entschlossen streifte er die Kutte ab und sprang zu mir auf den Scheiterhaufen. Nachdem er meine Fesseln gelöst hatte, hob er mich von dem Holzstapel und gemeinsam liefen wir zurück in den Wald. Aber diesmal war es anders. Die Bäume und Pflanzen machten einen freundlichen Eindruck und das Dickicht versperrte hinter uns den Weg. Eine Verfolgung war unmöglich. Nachdem wir eine Weile gelaufen waren, hielt er an. Lächelnd nahm er meine Hand: „Es wird Zeit, dich wieder nach Hause zu schicken.“

Sanft schloss er meine Augen.

„Tack, tack, tack“, drang wieder das Geräusch meine Wanduhr zu mir. Ich öffnete die Augen. Ich lag auf dem Boden meines Wohnzimmers. Vor mir, auf dem Schrank, das Bild von Soli. Bei näherem Betrachten hatte ich den Eindruck, als ob er mir noch einmal zuzwinkerte.


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