Jedes Jahr am 1. Mai

 © Silke Herbst 2005

 

Jedes Volk hat seine eigenen Sitten und Bräuche. Im friesischen Raum ist ein typischer Brauch das Aufstellen von Maibäumen. Hierbei handelt es sich um einen mit Tannen umwickelten Stamm mit einer Krone, der mit bunten Papiersteifen und Papierblumen geschmückt wird. Ähnlich wie die Türkränze zu Hochzeiten, nur eben als Baum. Traditionell wird dieser Maibaum am Abend des 30. April aufgestellt. Eine gewisse Anzahl von Männern und Frauen erklären sich dazu bereit, den Baum zu bewachen. Ein weiterer Brauch ist nämlich das Maibaumklauen. Die so genannte Wache versammelt sich um den Maibaum, trinkt Bier und versucht wach zu bleiben. Sollte es jemanden gelingen drei Spatenstiche am Baum auszuführen, gilt der Maibaum als geklaut. Traditionell werden die Maibäume von den ortsansässigen Gaststätten oder Vereinen aufgestellt. Ebenfalls zwingend gehört hier der Maibock dazu, ein besonderes Bier, welches zu solchen Gelegenheiten gerne getrunken wird und natürlich dürfen wir den Tanz in den Mai am 30. April nicht vergessen. Als ich noch ein Kind war, gab es in unserem Dorf zwei Gaststätten. Damit es keinen Streit gab, wurde der zweite Maibaum am Morgen des 1. Mai aufgestellt. Das war vielleicht ein großes Spektakel. Früh morgens wurde der Maibaum mit einem Trecker bei unserem Gärtner abgeholt und auf einen Anhänger geladen. Für uns Kinder stand ein zweiter Trecker bereit, auf dessen Anhänger wir hinter den Maibaum herfahren konnten. Für mich war es als Kind das Höchste auf diesem Anhänger zu sitzen und hinter dem Maibaum herzufahren. Dann ging es endlich los. Der Gastwirt lief vorweg und gab den Weg vor. Dahinter kam ein Spielmannszug, der Maibaum und dann wir Kinder. Auf ging es, kreuz und quer durch das ganze Dorf. Nach einer aufregenden Fahrt im Schneckentempo erreichten wir die Gaststätte. Unter ständiger Begleitung der lauten Musik des Spielmannzuges wurde der Maibaum nun endlich aufgestellt. Mit viel Glück stand der Baum beim ersten Versuch. Manchmal fiel er auch wieder um und es waren zwei oder drei Versuche nötig, während der Spielmannszug sich dazu einen Wolf spielte. Egal, irgendwie kam der Maibaum eigentlich immer zum Stehen. Anschließend begossen die Erwachsenen das Ereignis in der Gastwirtschaft und wir Kinder gingen auf den Rummel. Später als Jugendliche begleiteten wir den Maibaum direkt hinter dem Spielmannszug. In der Masse zu verschwinden hatte so seine Vorteile und wir hatten jede Menge Spaß. Auch für meine Großeltern Franz und Thaline war der 1. Mai ein besonderer Tag. Eigentlich hatte es sich im Laufe der Jahre auch schon zu einem Ritual entwickelt. Während meine Großmutter das Mittagessen vorbereitete, nahm mein Großvater rege an der Maifeier teil. Sie waren ein sehr unterschiedliches Paar. Meine Großmutter liebte ihr Zuhause und verließ es nur ungern. Im Gegensatz zu ihrem Franz war sie ein richtiges Schwergewicht. Mein Großvater kam gebürtig aus Wuppertal. Er liebte jeden Anlass zum Feiern  und war gerne unter Menschen. Sehr zum Leidwesen meiner Großmutter liebte er an solchen Tagen auch das Bier und die Kurzen. Dabei wurde immer kräftig geknobelt. Jedes Jahr am 1. Mai stand gegen zwölf Uhr das Mittagessen auf dem Tisch. Die ganze Familie versammelte sich dann in der Küche, bis auf mein Großvater, der saß in der Kneipe und feierte. Meistens schaute meine Großmutter dann ein paar Mal nervös zur Küchenuhr. Zehn Minuten später platzte ihr in der Regel der Kragen und sie schickte mich los, ihn zu holen. Auch dies schien zum alljährlichen Ritual zu gehören. Aber ein Jahr war alles anders. Ich erinnere mich, dass in diesem Jahr die Schwester meiner Großmutter zu Besuch war. Während mein Großvater und ich der Maifeier nicht widerstehen konnten, ließen sich die Damen gemütlich zu einem Teeschwätzchen in der Küche nieder und plauschten über alte Zeiten.

Pünktlich waren wir beim Gärtner und da gab es auch schon den ersten Ärger. Einer der Trecker streikte. Unter dem Druck der kleinen, enttäuschten Gesichter der Kinder tat der Bauer sein Möglichstes einen Ersatz zu besorgen. Mit einer Stunde Verspätung setzte sich der Zug dann endlich in Bewegung. Wie gewohnt zogen wir kreuz und quer durch das ganze Dorf.  Unermüdlich vibrierten die Trommeln des Spielmannzuges durch jedes Haus, bis auch der letzte wach war. Das freute besonders die Nachtwache des Maibaums vom Abend zuvor, die nach einer anstrengenden Nacht gerade in einen süßen Maibockschlaf gesunken waren, während sie noch etwas merkwürdig am und um den Maibaum herum hingen. Zumindest drückten das ihre schmerzerfüllten Gesichter aus, während die sich mit den Händen an den Kopf fassten. Es kann sich wohl jeder gut vorstellen, wie die Trommelwirbel in ihren Köpfen dröhnte. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, aber eine  Kopfschmerztablette gehörte halt zu jeder guten Maifeier dazu. Plötzlich gab es einen lauten Knall. Die Maibaumwache zuckte zusammen, aber auch alle anderen schauten neugierig zum Spielmannszug, um zu sehen, was dort passiert war. Völlig entsetzt sah einer der Trommler auf sein Instrument. Ein riesiges Loch prangte an der Seite. Die Trommel hatte wohl dem letzten Wirbel nicht standgehalten. Erst der Trecker und dann die Trommel. Irgendwie saß in dieser Maifeier der Wurm drin. Ich war gespannt, was wohl noch so passieren würde.

Endlich erreichten wir die Gaststätte. Langsam fuhr der Trecker mit dem Maibaum die Auffahrt herauf.. Oben auf dem Flachdach des Hauses warteten schon zwei Männer. Ihre Aufgabe war es, die Krone des Maibaums an Seilen hochzuziehen. Ein paar andere Männer versuchten während dessen den Stamm des Baumes aufzurichten und in einer am Boden befindlichen Vorrichtung zu befestigen. Schwitzend und pustend begannen die Männer mit der Arbeit. Langsam und königlich erhob sich der Maibaum bis fast zu seiner vollen Größe. Doch dann geschah es, eines der Seile riss.  Der zweite Mann konnte den Baum nicht alleine halten, krachend fiel der Maibaum auf den Anhänger zurück. Diesmal brauchten die Männer fünf Versuche, um den Baum aufzustellen, aber dann stand er endlich. Hektisch und genervt wurde der Stamm eilig befestigt. Auch die Männer vom Dach waren verblüffend schnell unten, schließlich gab es ja Freibier. Mein Großvater ging in die Kneipe und ich begab mich nach Hause. Es war durch die Zwischenfälle sowieso schon sehr spät geworden.

In der Küche angekommen sah ich meine Großmutter schon toben. Wütend schmiss sie mir ein paar Sätze an den Kopf, die ich lieber nicht wiederholen möchte.

Entgegen unserem Ritual schickte sie diesmal ihre Schwester, meinen Großvater zu holen. Solche Abwandlungen von gewohnten Bräuchen rächen sich sofort, es kamen beide nicht wieder. Unter heftigem Fluchen wurde ich doch noch aufgefordert in die Gaststätte zu gehen. Widerwillig machte ich mich auf den Weg. Kaum betrat ich die Gastwirtschaft, schrie einer der Gäste: „Franz, dein Räumkommando kommt.“

Ich hasste diesen Augenblick. Die Leute glaubten also, wenn ich erschien, dass für meinen Großvater die Feier zu Ende war. Wie schrecklich, aber ihn schien es nicht weiter zu stören, glaubte ich jedenfalls. Gelassen saß er mit seiner Schwägerin am Tresen. Beide knobelten und tranken genießerisch ihr Bier. Ich ließ mir von ihm Geld geben, drückte ein paar Platten an der Musikbox und bestellte eine Cola. Während ich an meinem Getränk schlabberte, versuchte ich ihn zu überzeugen mit nach Hause zu kommen, aber er wollte partout nicht mit. Stattdessen bestellte er die nächste Runde. Langsam geriet ich ins Schwitzen und mir gingen die Argumente aus. Es half kein Betteln und kein Flehen, mein Großvater blieb stur. Ich glaube, eine Stunde später hat er es zutiefst bereut.  Das war so ziemlich der Zeitpunkt, wo meine Großmutter in der Tür stand. Wie eine Dampfwalze tobte sie durch die Kneipe. Ohne große Diskussion schnappte sie ihn hinten am Kragen und zog ihn vom Hocker. Während er kräftig mit den Armen und Beinen strampelte, schleifte sie ihn gnadenlos zur Tür. Er machte dabei ein wenig den Eindruck eines auf dem Rücken liegenden Käfers. Krampfhaft versuchte er sich noch am Türrahmen festzukrallen, wobei der Rahmen bedenklich wackelte. Die Leute in der Kneipe bogen sich vor Lachen. Es hatte alles keinen Zweck, meine Großmutter behielt die Oberhand. Unbeirrt zog sie weiter an ihm. Nach dem x-ten Ruck ließ mein Großvater fluchend den Türrahmen los.  Krachend viel die schwere Tür ins Schloss. Zurück blieben die Kratzspuren meines Großvaters im Rahmen und ein Haufen amüsierte Leute, die wilde Geschichten über meine Großmutter erzählten. Ich glaube, mir war noch nie etwas so peinlich. Dann hörten wir die Hilferufe meines Großvaters. Irgendwie klangen sie verzweifelter, wie vorher. Für ein paar Bruchteile von Sekunden schwiegen alle Anwesenden, nur die Musikbox dudelte leise vor sich hin. Was zum Teufel war da draußen passiert? Tausend Gedanken schossen mir in einem wahnsinnigen Tempo durch den Kopf. Nachdem ich den ersten Schreck überwunden hatte, beschloss ich nachzusehen. Schnell rannte ich zu Tür und lief auf den kleinen Vorhof. Alles muss sehr schnell gegangen sein, denn ich sah gerade noch, wie die Krone des Maibaumes rauschend auf meine Großeltern herunterfiel. Die Knoten auf dem Dach hatten sich anscheinend gelöst und durch den mehrfachen Aufprall des Maibaumes auf die Anhängerkante beim Aufstellen, war wohl eine Bruchstelle am Stamm entstanden.

Meine Großmutter stand nur da und starrte bewegungslos auf die herunterfallende Krone. Krampfhaft hielt sie meinen schreienden Großvater noch immer am Kragen fest. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Wie in Zeitlupe verfolgte ich das dramatische Geschehen. Die Spitze der Krone hatte die Schulter meiner Großmutter erreicht und warf sie auf den Rücken. Mit einem lauten Knall fiel der Rest mit samt allen Schleifen und Blüten auf die beiden herab. Unter dem Tannengrün schauten nur noch die wild strampelnden Beine meines Großvaters hervor. Eilig rannten einige Männer meinen Großeltern zu Hilfe. Mit viel Kraft hoben sie die Krone zur Seite und halfen meinen Großvater auf die Beine. Meine Großeltern schienen Glück gehabt zu haben. Der Anhänger hatte die Wucht des Aufpralls gedämpft. Nur meine Großmutter lag am Boden und starrte noch immer bewegungslos in die Luft. Sämtliche Versuche sie aufzurichten scheiterten. Der Wirt hatte mittlerweile einen Krankenwagen gerufen. Beide wurden zur Untersuchung ins Krankenhaus gefahren. Neben Schrammen und Kratzern hatte meine Großmutter noch eine leichte Gehirnerschütterung. Am Schlimmsten war für sie wohl der Schock. Allerdings hat sie nie wieder eine Kneipe betreten.


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