Diätenwahn

 

©Silke Herbst

 

 

Eigentlich esse ich gerne. Bisher habe ich auch noch nie ein Problem damit gehabt. Gut meine Hausärztin hat mich schon einige Male auf meinen Cholesterinspiegel angesprochen, aber den hatte ich bis zur nächsten Blutabnahme immer wieder im Griff. Ich habe einen Abend vorher einfach einen Artischockendrink zu mir genommen und meine Werte waren bestens. Was soll ich tun? Ich kann von gewissen Leckereien einfach nicht die Finger lassen. Gerade Pizza, Sahnesoßen oder Hamburger gehören bei mir auf die Speisekarte. Auch während eines stressigen Bürotages dürfen Schokolade und Kuchen nicht fehlen. Dabei fand ich immer wieder nette Arbeitskollegen, die diese Leidenschaft gerne mit mir teilten. Wir wetteiferten richtig miteinander, wer die beste Schokolade im Schreibtisch hatte.

Eines Tages änderte sich alles. Der alljährliche Diätenwahn hatte in diesem Jahr auch unser Büro erwischt. Eine Auszubildende hatte sich mit diesem Wahn stark infiziert. Erst sah es ganz harmlos aus. Während unserer Pausen erwähnte sie immer wieder, dass sie jetzt regelmäßig Sport machte. Ich hatte ja nichts gegen Sport, solange ich keinen betreiben musste. Fasziniert erzählte sie immer wieder, wie toll Bewegung ist und wie viel sie schon dadurch abgenommen hatte. Langsam fingen auch meine anderen Kollegen mit Sport an. In den Pausen gab es kein anderes Thema mehr. Krampfhaft versuchte ich dabei meinen Kuchen zu genießen.

Lächelnd sah mich eine Kollegin an: „Ein bisschen Sport würde dir auch ganz gut tun.“

Fast hätte ich mich an meinem Berliner verschluckt. Körperliche Bewegung war nun wirklich mein größter Albtraum. Nach Feierabend fuhr ich nachdenklich nach Hause. Sollte ich tatsächlich etwas für meinen Körper tun? Alleine die Vorstellung ließ mich erschaudern. In meinen eigenen vier Wänden angekommen, plünderte ich erst einmal den Kühlschrank. Mit einem Brotbrett voll Cholesterinbomben, machte ich es mir auf meinem Sofa gemütlich und startete meine Playstation. Um mein Gewissen ein wenig zu erleichtern, schickte ich meine Sims, ein Spiel mit menschenähnlichen Wesen, in ein Fitnessstudio. Nach einer Viertelstunde trat mir allerdings der Schweiß schon vom Zuschauen auf die Stirn. Schnell schaltete ich das Spiel wieder aus. Zumindest hatte ich es mit Sport versucht und hatte meine Sims hart trainieren lassen. Und wie ging es den armen Sims danach? Sie waren todmüde, vielen an Ort und Stelle um und versanken in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Nein danke, nicht mit mir. Am Besten wäre, ich würde dieses Sportgesabbel in den Pausen einfach ignorieren.

Doch es kam noch schlimmer. Seit Neustem wurden in unserem Büro Punkte gezählt. Hierbei handelt es sich um ein System, wo verschiedenen Lebensmitteln Punkte zugerechnet werden. Für jede Person wird individuell ein bestimmter Tagesbedarf an Punkten errechnet. Anhand der Lebensmittelpunkte bestimmt man selber, was und wie viel man essen kann, bis der Tagesbedarf erreicht ist. Okay, Sport war out und Punktezählen war in. Fassungslos hörte ich zu, wie meine Kolleginnen sich gegenseitig die Punkte ihres Frühstücks vorrechneten. Ich kannte dieses Punktesystem zwar von meiner Freundin Antje, aber irgendetwas schien hier anders zu laufen. Soviel ich wusste, nahm Antje an regelmäßigen Treffen teil und holte sich dort professionelle Hilfe und Beratung. Meine Freundin würde mir niemals meine Punkte vorrechnen, die ich gerade zu mir nahm. Heimlich, still und leise rechnete sie und hatte damit Erfolg. Sie näherte sich Stück für Stück ihrem Wunschgewicht.

Auf der Arbeit war die Lage etwas anders. Gurken, Tomaten und roher Paprika zogen triumphierend ins Büro ein. Jedes einzelne Frühstück wurde analysiert. Nebenbei, von so einem Frühstück könnte ich höchstens eine Stunde existieren. Sport ist ja schon eine Drohung, aber Punkte zählen wollte ich nun absolut nicht. Allerdings war mir auch bei einigen meiner Kolleginnen nicht klar, wo genau sie eigentlich abnehmen wollten. Eigentlich stand ich eher auf dem Standpunkt, dass eine normale Durchschnittsfrau, die jeden Tag arbeiten geht, den Haushalt schmeißt und noch sonst tausend Sachen erledigen muss, nun einmal nicht wie ein Model aussehen kann. Auch wenn uns die Werbung genau dies täglich einreden möchte. Wir haben nun einmal nicht die Zeit Stunden im Fitnessstudio zu verbringen und nicht das Geld, unser wohlverdientes Fett absaugen zu lassen.

Trotzdem nagten langsam Zweifel an mir. Vorsichtig fragte ich abends meinen Mann, ob er meine Figur noch in Ordnung fände.

„Du bist halt keine zwanzig mehr“, meinte er mich aufklären zu müssen.

„Warum frage ich dich überhaupt?“, entgegnete ich verärgert.

So eine Antwort war ja mal wieder typisch für ihn. Frustriert bestellte ich mir eine Pizza. Es war zwar schon spät, aber egal. Ich hatte Hunger.

Kurz danach meldete sich wieder mein schlechtes Gewissen. Ich stellte mich vor dem Schlafzimmerspiegel und ließ meinen Blick kritisch über meinen Körper gleiten. Entschlossen begutachtete ich die Fettpolster an den Oberschenkeln und ärgerte mich über meinen Bauch. Über meine Hautprobleme wollte ich schon gar nicht mehr nachdenken. Kurz gesagt, im Spiegel sah ich eine ekelerregende Erscheinung. Kurz darauf betrat mein Mann das Schlafzimmer.

„Was machst du denn da?“, fragte er mich neugierig.

Ich erzählte ihm von meinen Gedanken und zu welchem Ergebnis ich gekommen war.

Er schüttelte mit dem Kopf: „Du hast einen Knall. Ich sagte doch bereits, du bist keine zwanzig mehr,“

Irgendwie hatte er ja Recht. Ich hatte mir noch nie Gedanken um mein Gewicht gemacht, warum also jetzt.

Am nächsten Tag erzählte ich auf der Arbeit von meinem Pizzaanfall.

Eine Auszubildende schaute mich mit großen Augen an: „Wissen Sie, dass eine Pizza über zwanzig Punkte hat? Das ist fast mein kompletter Tagesbedarf.“

„Gut, dass ich es weiß“, konterte ich, „dann bestelle ich mir das nächste Mal zwei.“

Mittlerweile hatte mein Gewissen seinen Tiefpunkt erreicht. Verzweifelt bestrich ich einen Schokoladenriegel mit Senf, wickelte ihn in Käse und belegte mein Brötchen damit. Ich überlegte noch kurz, ob ich das Ganze kurz in die Mikrowelle stellen sollte, aber nein. Beim letzten Versuch überdeckte der Geschmack der geschmolzenen Schokolade das gute Käsearoma.

In den nächsten Wochen lernte ich zwangsweise die Punkte der einzelnen Lebensmittel kennen. Mittlerweile waren immer mehr Leute in meiner Umgebung vom Diätenvirus befallen. Ich versuchte immer wieder diese Daten von der Festplatte in meinem Gehirn zu löschen. Vergebens, meine Gehirnzellen meldeten immer wieder einen schweren Ausnahmefehler oder diese Daten sind schreibgeschützt. Ich ertappte mich sogar dabei, dass ich meine geliebte Cola gegen Wasser getauscht hatte. Dieser Vorgang passierte klamm heimlich ohne dass ich ihn registriert hatte. Auch meine abendlichen Portionen wurden kleiner und meine Schreibtischschublade blieb leer. Nur unter starken Stress erlaubte ich mir noch die eine oder andere Kuchenattacke, aber sie wurden seltener. Eines Abends habe ich mich sogar dabei erwischt, in meinem Lieblingsrestaurant einen Salat bestellt zu haben.

Freunde, die mich länger nicht gesehen hatten, fragten sofort, ob ich abgenommen hätte. Ich zuckte mit den Schultern. Aus Prinzip ging ich meiner Waage schon seit Jahren aus dem Weg. Allerdings ging auch ich davon aus, dass ich an Gewicht verloren haben musste. Meine Hosen und Röcke waren in letzter Zeit etwas weit geworden und ich war ständig schlapp und müde. Vielleicht sollte ich mich doch einmal auf die Waage stellen. Ängstlich bewegte ich mich Richtung Badezimmer und schaute ehrfürchtig auf die Waage. Gleich würde sie mir die Wahrheit sagen. Ich hatte Herzklopfen, als ich sie betrat. Mit geschlossenen Augen hörte ich das Piepen, der Wiegevorgang war abgeschlossen. Sollte ich wirklich auf mein Gewicht schauen? Ich zweifelte einen Moment lang und dachte noch einmal kurz nach. Ich musste es einfach wissen. Entschlossen öffnete ich die Augen und sah entsetzt auf die kleine Digitalanzeige. Ich hatte in der letzten Zeit tatsächlich 10 kg abgenommen. Ich rieb meine Augen und schaute noch einmal auf die Anzeige. Es hatte sich nichts verändert. Irritiert startete ich den Wiegevorgang noch einmal, mit dem gleichen Ergebnis. Angstschweiß trat mir auf die Stirn. 48 kg bei einer Körpergröße von 1,68 m war einfach zu wenig. Daher meine Schwächeanfälle und auch mein Kreislauf meldete sich in letzter Zeit öfter und drohte mit Kollaps. Ein Besuch bei meiner Ärztin beruhigte mich ein wenig. Mein Gewicht war gerade noch vertretbar, aber es musste mehr werden. Mir würde ein harter Weg bevorstehen, bis ich mein altes Gewicht wieder erreicht hätte.

Das ist jetzt ein Jahr her. Im Büro tobt immer noch der Diätenwahn. Jede neue Technik wird probiert und ausdiskutiert. Ich habe mein altes Gewicht noch lange nicht wieder. Hartnäckig kämpfe ich weiter um jedes Kilo und auch meine Waage besuche ich jetzt wieder regelmäßig.


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