Große Liebe Widerwillen

©Silke Herbst 20.03.2020
   Überarbeitet 28.11.2020

Ein Lächeln huschte über Sinas Gesicht und in ihre Augen erschien ein glückliches Strahlen. In letzter Zeit waren ihre Gedanken so oft bei ihm. Heimlich hatte er sich nach den vielen Jahren wieder in ihr Gedächtnis geschlichen. Sie ertappte sich etliche Male dabei, wie sie seinen Namen in eine Suchmaschine eingab. Doch sie fand keine Spur von ihm. Nun wurde er ihr als Freund vorgeschlagen. Sie konnte es selber kaum fassen. Der Zufall spielte ihnen schon oft einen Streich. Ihre Hände zitterten, sie griff zur Maus und klickte auf seine Seite. Es war 30 Jahre her, wo sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Ihr Herz pochte aufgeregt und kleine Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Gleich würde sie ihn sehen. Ob er sich verändert hatte? Es war ihr unheimlich, dass nach dieser langen Zeit immer noch diese Magie bestand. Die Seite öffnete sich und sie sah auf sein Profilbild. Da war er also, nein sie hätte ihn wohl nicht erkannt. Selbst wenn er neben ihr gestanden hätte oder vielleicht doch, die Augen, das Muttermal auf der Wange oder die kleine Zahnlücke? Oder ein vertrautes Gefühl?
Dann entdeckte sie das Bild seiner Frau, eine Entscheidung, die Sina nie verstanden hatte. Sie hat Christine ein paar Mal gegenüber gestanden. Gott sei Dank wusste Christine nicht, wer sie war. Sina fehlte einfach die Erklärung für alles, was geschehen war. Seit fast 30 Jahren wartete sie auf ein Wort von ihm, etwas, was alles erklärte und ihr Herz wieder frei sein ließ. Sina dachte damals, sie hätten ein enges Band, eine Verbindung. Und dann nicht mal ein Wort. Oder doch? Er hatte es möglicherweise versucht und sie wollte es nur nicht verstehen. Lange Zeit hatte sie angenommen, sie könnte ihn vergessen, aber alle ihre Beziehungen waren gescheitert. Sie hat sogar versucht, ihn zu hassen, aber ihr Herz liebte ihn zu sehr, als dass sie ihm nur einen bösen Gedanken hätte entgegenbringen können. Jedes Mal fragte sie sich, was in ihren Beziehungen schief lief. Auf einmal schien es klar, der Platz neben ihr war nie frei. Sie hatte damals einen Strich gezogen, dachte sie zumindest. Doch heute hatte sie das Gefühl, sie bräuchte eine Klärung, ein offenes Gespräch. Aber ihr war klar, sie würde es nie bekommen. Aufmerksam betrachtete sie die Seite. Sein Account schien schon länger inaktiv. Sie schaute sich die Bilder an. Er sah glücklich aus, das beruhigte sie. Sie überlegte, ob sie ihn anschreiben sollte, einfach nur „Hallo“ sagte. Doch sie hatte zu viel Respekt vor seinem Schweigen. Er schien zufrieden zu sein und es stand ihr nicht zu in sein Leben zu platzen. Sie kämpfte mit ihren Gefühlen.
Sie griff in die Schublade ihres Schreibtisches und holte die alten Briefe von ihm hervor. Sie hatte sie all die Jahre wie einen Schatz gehütet. Sie lehnte sich zurück und las sie noch einmal und ihren Gedanken trugen sie in die Vergangenheit.

Alles begann 1983. Sina war damals 14 Jahre alt und hatte mit Jungs nichts am Hut. Aber dann geriet der Name Sven immer wieder in ihre Welt. Von der einen Seite durch ihre Freundin Maja, die mit ihm auf dieselbe Schule ging. Auf der anderen Seite von ihrer besten Freundin Antje. Eine andere Freundin von Antje, Tina, war seine Cousine. Tina schwärmte ständig von ihrem Cousin. Von Maja hörte Sina allerdings andere Geschichten. Die Mädchen liefen ihm in Scharen hinterher. Nichts für Sina. Aber irgendwie erweckten die Erzählungen eine gewisse Neugier in ihr. Sina war eine zierlich Person mit strahlenden grauen Augen und dunklem Haar. Genaugenommen hätte sie mit sich zufrieden sein können, aber ihre Tante, bei der sie lebte, redete ihr ständig ein, dass sie ein Nichts war. Obwohl Sina hatte große Pläne. Sie besuchte das Gymnasium und wollte später studieren. Und bei einem Sven mit 10 Mädchen an jedem Finger musste sie passen, das klang schon viel zu anstrengend. Außerdem sagte ihre Tante immer wieder, sie sollte erst etwas Gescheites lernen, bevor sie überhaupt einen Gedanken an Jungs verschwenden könnte. Okay Sina schwärmte ein wenig für einen Jungen aus der Nachbarschaft, aber ihn anzusprechen hätte sie sich eh nie getraut. Dafür liebte sie es, mit ihren Freundinnen in gemütlicher Runde Tee zu trinken. Auch wenn alle ihre Freundinnen NDW hörten, Sina stand komplett auf Italien Disco. Das war halt typisch Sina, alle bogen rechts ab, nur sie ging nach links.

Sina hatte ihre Konfirmation schon hinter sich gebracht. An diesem Sonntag war sie auf die Konfirmation von ihrer Freundin Antje eingeladen.
Am Samstag kam Maja zu ihr. Maja war 14 und wohnte in der Nachbarschaft. Die beiden kannten sich schon, seit sie 4 Jahre alt waren. Sie kochten sich einen Kirschtee und machten es sich in Sinas Zimmer gemütlich. Sinas kleine Zimmer bestand aus einem flachen Tisch und zwei kleinen Sesseln. Der Tisch war so klein und flach, dass man vor ihm bequem auf dem Boden hätte sitzen können. Links am Fenster stand ein Schreibtisch. An der Seite waren in einer Nische Regale, die Sina hinter einem gelben Vorhang verstecken konnte. Dann gab es in der anderen Ecke noch einen kleinen Drehstuhl, auf dem Sina einen Starschnitt platziert hatte. Neu dazugekommen war ein Turm mit einer Stereoanlage. Sie war Sinas ganzer Stolz. Sie hatte sich damit von ihrem Konfirmationsgeld einen Traum erfüllt. Es war eine gute Investition, da sie diese Musikanlage noch heute besaß.
Maja lümmelte sich auf einen der Sessel und grinste ständig. Nervös drehte sie die Tasse in der Hand.
Schließlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und es platzte aus ihr heraus: „Und für dich gibt es morgen eine Überraschung!“
„Ja, Antje sagte etwas davon“, antwortete Sina gelassen, „ich bin schon total gespannt.“
Maja riss die Augen auf: „Du weißt nicht was die Überraschung ist?“
Sina sah erstaunt auf: „Nein! Du etwa?“
„Du sollst morgen Sven kennenlernen.“
Nun war es raus, Maja sah sie triumphierend an.
„Wie Sven?“, Sina schaute ungläubig und schüttelte mit dem Kopf.
Maja lachte: „Na morgen auf der Konfirmation. Antje und Tina haben sich nachmittags verabredet. Und Tina will unbedingt vor dir mit ihrem Cousin angeben.“
„Woher weißt du das?“
„Na, Sven hat es mir gestern in der Schule erzählt. Er steht jede Pause bei uns zu snacken. Er steht total auf Silvia, eine Schulfreundin von mir. Die kommen bestimmt bald zusammen, so wie ich das sehe. Ich schätze mal spätestens nächste Woche sind sie ein Paar. Grüß ihn mal schön von mir. Aber sag ihm Grüße von Mimi, das ist mein Spitzname an der Schule.“
Sina lachte: „Okay das mach ich. Nun bin ich doch ein wenig gespannt auf ihn.“
Das war maßlos untertrieben. Sina platzte fast vor Neugier. Irgendetwas musste ja mit diesem Sven sein. Es verging nicht ein Tag, wo sie nichts von ihm erzählt bekam. Genau genommen nahm er in ihrem Leben eine Menge Raum ein und sie hatte keine Vorstellung, wer er war und wie er aussah. Aber das würde sich ja morgen ändern. Dann hatte sie endlich ein Bild zu dem Jungen, über den sie nur wusste, dass er 1 Jahr älter war und die Mädchen auf ihn flogen.
Sina schenkte Tee nach und fröhlich plapperten die beiden Mädchen weiter.

In der Nacht konnte Sina kaum schlafen, sie war aufgewühlt, so als ob sich eine Vorahnung in ihr breitmachte.
Die Aufregung sollte sich am Sonntag noch steigern. Sina rutsche auf der Kirchenbank hin und her und sehnte den Nachmittag herbei. Schon jetzt kreisten ihre Gedanken immer wieder um diesen Sven. Bis 15 Uhr musste sie noch ausharren. Bis dahin waren aber ein Gottesdienst und das Mittagessen zu überstehen. Dieser Tag war Aufregung pur.
Nach dem Essen setzte sie sich mit Antje zusammen. Auch Antje war 14 Jahre und sie waren seit der ersten Klasse beste Freundinnen. Nachdem Antje mit ihren Eltern außerhalb der Stadt gezogen war, sahen sie sich leider etwas weniger, aber die Freundschaft sollte die nächsten Jahrzehnte überdauern.
„Wir treffen uns nachher noch mit Tina. Sie sagte, sie hätte eine Überraschung“, erwähnte Antje so nebenbei.
Sina grinste: „Ja ich weiß, sie bringt Sven mit.“
Fragend schaute Antje sie an.
Sina musste lachen: „Ich weiß es von Maja, die geht mit dem Sven auf eine Schule und er hat es ihr in der Pause erzählte.“
„Ach so“, Antje nickte und lachte, „Tina sagte nur etws von einer Überraschung.“
Um kurz vor 15 Uhr machten sich die beiden Mädchen auf den Weg zur Sparkasse in dem kleinen Dorf, in den Tina und Antje lebten. Dort war sie verabredet. Die Spannung in Sina wuchs ins Unerträgliche. Gleich würde sich das Geheimnis um diesen Sven lüften. Sie war gespannt, ob er den vorangegangenen Erzählungen entsprach oder eher nicht.
Als sie ankamen, waren Tina und Sven bereits da. Antje und Tina gingen sofort aufeinander zu. Nach einer Umarmung fingen sie an zu erzählen, was bisher auf ihrer Konfirmation passiert ist.
Die Bank hatte eine kleine Überdachung mit Pfeilern.
Sina blieb an einem Pfeiler stehen und sah auf. Und da stand er und lehnte an dem Pfeiler ihr gegenüber. Sina musterte ihn kurz. Er war um einiges größer als sie, dunkle Haare, braune Augen und ein Muttermal auf der Wange.
Sina lächelt in sich hinein, so sah also der Schulschwarm aus, na gut.
Sie stellte sich etwas abseits hinter ihren Pfeiler und gab sich Mühe gelangweilt zu wirken.
Während Antje und Tina weiter redeten, kam Sven lässig rüber geschlendert und blieb vor ihr stehen.
„Hallo“, sagte er und lächelte warm, „ich bin Sven.“
„Ja, ich weiß“, schoss es Sina raus, „ich soll dich von Mimi grüßen.“
Sie biss sich auf die Lippe. Mit dem Gruß hätte sie noch warten wollen.
Er schaute sie erstaunt an: „Mimi? Kenne ich nicht.“
„Na, Maja“, legte Sina nach. Da musste es doch bei ihm klingeln.
Angestrengt dachte er nach: „Nein, sagt mir auch nichts.“
Dann nannte er Sina viele Namen und fragte immer wieder, ob sie jemanden davon kennen würde, aber sie verneinte. Er gab nicht auf und zählte ihr weitere Namen auf.
„Tut mir leid“, sagte Sina schließlich, „ich kenne nur Mimi.“
Sinas Herz schlug ihr mittlerweile bis zum Hals, aber sie versuchte, gelangweilt zu wirken. Da er einiges größer war, musste sie ständig zu ihm aufsehen. Sie kam sich dabei ein wenig blöd vor.
Er grübelte laut und legte die Stirn in Falten: „Wer ist diese Mimi?“
„Auf welche Schule gehst denn du?“, fragte er erwartungsvoll.
„Auf das Hummel Gymnasium.“
„Oh“, er runzelte die Stirn. „Ich bin auf der Rodensieler Hauptschule.“
„Ja ich weiß, du gehst ja mit Mimi auf eine Schule.“
Sina grinste.
Die Zeit verging wie im Flug und sie merkte, dass sie sich mit diesem Sven super verstand. Genau genommen mehr, als es ihr lieb war. Sie redeten über alles Mögliche bis Antje das Gespräch mit Tina beendete. Sie mussten leider zurück nach Hause.
In der Nacht schlief Sina schlecht. Sie war aufgeregt und dachte immer wieder an die tolle Unterhaltung mit Sven. Irgendwie machte es sie glücklich und dann wiederum war ihr alles unheimlich. Sie verstanden sich auf Anhieb zu gut. Gleichzeitig raste ihr Herz aus Angst, sie könnte ihm nicht gefallen. Was war bloß mit ihr los?

Zwei Tage später traf Sina sich wieder mit Maja zum Tee. 1983 war so die Zeit, wo man dieses japanische Teeservice aus Steingut hatte und verschiedene Früchtetees trank. Die Tassen durften auf gar keinen Fall einen Henkel haben, ansonsten konnte man sich ja schließlich nicht die Finger verbrennen. Dazu gab es meistens selbstgebackene Kekse.
Maja konnte sich schon vor Lachen kaum halten, als sie zur Tür hereinkam.
„Was ist denn mit dir los?“, neugierig musterte Sina ihre Freundin.
Maja schüttelte sich, sie konnte nicht mehr. Sie schnappte nach Luft und brauchte eine Weile, bis sie reden konnte.
„Du, du, du glaubst es nicht“, rief sie schnaufend, „ehrlich nicht.“
Sie warf ihre Jacke auf den Boden und setzte sich auf einen Sessel.
Sina lachte: „Na was denn? Mach es doch nicht so spannend. Raus mit der Sprache.“
Maja schüttelte sich wieder. Es dauerte, bis bei ihr halbwegs ein vernünftiges Wort herauskam.
„Du, der Sven sucht seit Montag die ganze Schule nach einer Mimi ab“, bekam sie noch heraus und musste wieder Lachen, Tränen liefen ihr über das Gesicht.
„Wie die ganze Schule?“, bei der Vorstellung wie er auf dem Schulhof von einem zum anderen raste lachte Sina mit. „Wirklich? Wieso? Wegen dem Gruß?“
„Ja, er ist Montag gleich angefangen. Er hat wirklich jeden gefragt. Verstehst du? Jeden! Und heute stand er dann auch vor mir und fragt mich tatsächlich, ob ich eine Mimi kenne.“
Beide Mädchen schüttelten sich vor Lachen. Nun rannten auch Sina die Tränen über die Wangen.
„Und, was hast du ihm geantwortet?“
„Klar hab ich gesagt.“
Sina lachte: „Und dann?“
„Total aufgeregt hat er mich gefragt, ob ich ihm sagen könnte wer das wäre. Ich habe natürlich erst einmal so getan als ob ich überlege und in sein gespanntes Gesicht gesehen. Ja und wer ist das nun, fragte er dann ungeduldig. Ich habe dann freundlich gelächelt und habe ihm gesagt: Ich.“
Beide Mädchen konnten nicht mehr. Die Vorstellung war zu komisch.
„Und?“, fragte Sina neugierig und schnappte nach Luft.
„Nun lässt er mir keine Ruhe, ich soll ein Treffen mit dir ausmachen.“
Sina überlegte kurz: „Nee, lass mal lieber. Ich habe da nicht wirklich ein gutes Gefühl.“
In ihrem Bauch machte sich ein merkwürdiges, aber angenehmes Gefühl breit, wenn sie an Sven dachte. Schnell verdrängte sie das Gedanken und schimpfte mit sich selber. Was war nur mit ihr los?
Die nächsten Wochen brachte Maja immer wieder das Anliegen von Sven vor. Er ließ bei ihr einfach nicht locker und nervte jede Pause. Aber Sina wollte nicht. Warum sollte sie sich mit jemanden treffen, wo schon so viele Mädchen dran waren, wie Tina und Silvia und wer weiß noch alles.
„Bitte verabrede dich doch endlich mit ihm“, bettelte Maja, „er lässt mich sonst nie in Ruhe.“
Es half nichts, Sina blieb hart.

Die Wochen vergingen und Sina hatte das Thema Sven immer wieder erfolgreich verdrängt.
An ihrer Schule waren Abituren und die Unterstufe hatte schulfrei. Sie hatte mit Maja verabredet, sie von der Schule abzuholen.
Es war ein schöner Tag, als Sina zur Rodensieler Schule radelte. Am Tor blieb sie stehen, um dort auf Maja zu warten. Sie stellte ihr Rennrad ab und lehnte sich lässig an die Mauer des Fahrradstandes. Genüsslich hielt sie ihr Gesicht in die Sonne. Vom Schulhof her kam ein Junge auf einem Fahrrad. Mit einem rasanten Tempo schoss er an ihr vorbei. Auf einmal sah er sich nach ihr um, dann wieder nach vorne, radelte weiter, schaute sich erneut um und fuhr direkt gegen eine Laterne. Er fing sein Rad auf, drehte um und radelte im selben Tempo zu ihr zurück. Mit einer Vollbremsung kam er vor ihr zum Stehen: „Sag mal, kennen wir uns nicht irgendwo her?“
Sina schmunzelnd: „Klar, kennen wir uns.“
Fragend sah er sie weiter an. Doch dann strahlte er: „Ja genau, du bist Sina von Tinas Konfirmation. Du schuldest mir noch ein Treffen.“
Inzwischen kam auch Maja mit rollenden Augen dazu und schaute Sina flehend an.
„Los Sina“, bettelte sie, „er läßt mich sonst nie in Ruhe.“
Sven schenkte ihr sein schönstes Lächeln und Sina gab sich geschlagen: „Okay, ich denke darüber nach.“
Er grinste und in seinen Augen funkelte es.
Sina bekam ein leichtes Kribbeln im Bauch und wurde nervös.
„Ich sage Maja Bescheid, okay?“
Schnell schnappte sie sich ihr Fahrrad, sie musste weg, bevor ihr die Röte ins Gesicht stieg.
„Wollen wir los?“, wandte sie sich an Maja.
Dann nickte sie Sven kurz zu und radelte überstürzt los.

Ein paar Tage später ...
Sina war aufgewühlt, irgendetwas in ihr schwärmte für diesen Sven, aber ihr Verstand warnte sie. Trotz aller Zweifel verabredete sie sich mit Maja und Sven. Beide kamen nach der Schule zu ihr. Nachdem die Teerunde eröffnet war, plauderten sie drauf los. Und wieder merkte Sina, wie gut sie sich mit Sven verstand. Im Gespräch suchte er ständig Blickkontakt zu ihr und sie senkte leicht die Augenlider und schaute nach unten.
Sina hatte eine neue LP, die sie auflegte und Sven wollte die ganze Zeit nur den Song „Wishing“ hören. Sina musste immer wieder zum Plattenspieler und die Nadel nach vorne legen. „Wishing“ die Zehnte.
„Was ist eigentlich mit Silvia?“, erkundigte sich Maja bei Sven beiläufig, „wann kommt ihr endlich zusammen?“
„Silvia?“, Sven guckte erstaunt. „Gar nicht. Die nervt mich schon seit Wochen.“
Maja lachte: „Okay, das habe ich irgendwie anders gedacht.“
„Oh nein“, antwortete Sven, „jede Pause das Gebabbel. Hör' bloß auf.“
„Und was ist mit Tina?“, warf Sina ein.
Bei Sven legte sich eine Falte auf die Stirn: „Tina? Die auf einer Konfirmation ihren Cousin vorführt, weil sie ihn geil findet?“
Er lächelte Sina an: „Wie ist es mit dir? Willst du mit mir gehen?“
Sinas Herz pochte bis zum Hals und ihre Ohren liefen knallrot an, als sie sich sagen hörte: „Ach nö, lass man.“
„Spinnst du?“, schimpfte ihr Herz, „du empfindest doch ganz anders. War das nicht genau das, was du wolltest?“
„Nein“, schrie ihr Verstand, „die Antwort war genau richtig. Du willst nicht eine von vielen sein.“
Maja zog hörbar die Luft ein und schaute Sina ungläubig an. Hatte sie Sven tatsächlich gerade einen Korb gegeben?
Sina schaute vorsichtig zu Sven, aber sie konnte nicht erkennen, was er dachte und er sagte auch nichts.
Sie hatte erwartet, dass er kämpfen würde, da hatte sie sich wohl getäuscht.
Mittlerweile war eine Freundin von Maja dazugekommen, Karla.
Sie hatte den richtigen Zeitpunkt erwischt und brachte die Gespräche wieder zum Laufen.
Sven verabredete sich für den nächsten Tag mit Karla.
Sina fühlte einen leichten Stich, aber sie hatte sich nun einmal so entschieden. Wenn ihm etwas an ihr lag, würde er nicht so einfach aufgeben. Wie es schien, war sie ja sehr schnell ersetzbar.

Zwei Tage später stand Maja aufgeregt bei Sina im Zimmer.
„Sven ist jetzt mit Karla zusammen“, platze es aus ihr heraus, „Sina du musst was machen?“
Sina schluckte: „Ich? Warum?“
Sinas Verstand triumphierte: „Siehst du Herz, wie schnell er sich getröstet hat. Ich hatte also recht.“
„Püh“, erwiderte das Herz, „wir werden sehen.“
Sina war überfordert, sie hatte keine Ahnung was sie denken, fühlen oder sagen sollte. Alles in ihr war neu und unbekannt.
Maja flatterte hin und her: „Pass auf ich bestelle ihn her und dann verschwinde ich und dann musst du ihm Karla ausreden.“
„Warum?“, Sina zog verwundert eine Augenbraue hoch, sie war ein wenig verwirrt.
„Die passen nicht zusammen, glaube mir“, setzte Maja nach „und wenn es ihm jemand ausreden kann, dann du. Ich sage ihm morgen, dass er am Nachmittag zu dir kommen soll. Und du musst ihm sagen, dass Karla nicht zu ihm passt. Hast du das verstanden?“
Maja sah Sina eindringlich an. Sina nickte, Maja würde ihr ja sonst eh keine Ruhe lassen, aber verstanden hatte sie es nicht.

Auch diese Nacht war nicht Sinas, die Sache mit Karla hatte sie verletzt. Das ging ja schnell bei ihm, aber ihr Herz sagte, sie soll erst einmal abwarten, während ihr Verstand irgendetwas von sie würde schon sehen murmelte.

Am nächsten Tag konnte sie sich in der Schule kaum konzentrieren. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um Sven.
Am Nachmittag waren Maja und Sven pünktlich, was für Maja untypisch war. Normalerweise kam sie pauschal zu spät. Erst redeten und lachten sie zusammen und Sina ließ Sven in ihr Freundschaftsbuch eintragen. Sina war gespannt, was sie über ihn im Buch erfuhr.
Sie warf einen Blick auf seine Eintragungen.
„Aha“, dachte sie, „er ist also Stier. Skorpion und Stier wird eh nichts.“
Sie diskutierten noch ein wenig über den Musikgeschmack und Sina legte die Nadel mal wieder zum x-ten Mal zurück auf „Wishing“.
Schließlich verabschiedete sich Maja mit einer Ausrede.

Das Wetter war schön und Sina fragte Sven, ob sie nicht zum Plaudern im Garten spazieren gehen wollten. Sven fand die Idee gut. Sie machten sich auf in den hinteren Garten des Hauses.
Sina hatte keine Ahnung, wie sie anfangen sollte wegen Karla. So liefen sie den Garten auf und ab, redeten, lachten und waren beide glücklich. Lächelnd schaute Sina immer wieder auf seinen linken Fuß. Am Schuh hatten sich die Schnürsenkel gelöst und er stolperte ab und zu, trotzdem machte er keine Anstalten sie zuzubinden. Sina sprach ihn drauf an, aber er meinte, er trägt den Schuh immer so.
Nachdem sie über eine Stunde durch den Garten marschiert waren, fasste Sina sich ein Herz und fragte Sven: „Bist du sicher, dass du und Karla zusammen passt?“
Verwundert sah er sie an und lächelte. „Warum?“
„Na Maja meint, dass ihr wohl nicht so gut zusammen passt und dass du besser Schluss machen solltest.“
Nervös bohrte sie mit ihrer Schuhspitze ein Loch in den Rasen und sah zu ihm auf. Die Situation war ihre peinlich.
Er lächelte sie an: „Wenn du das meinst, dann mache ich mit ihr Schluss.“
Sina nickte, sie hatte ihre Mission erfüllt. Ihr war leichter ums Herz, aber sie hatte auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Karla.
Sie gingen zum Haus, mittlerweile war Maja zurück. Zwischendurch warfen sich Sven und Sina immer wieder einen langen Blick zu. Sinas Herz hüpfte jedes Mal.
Klamm heimlich hat er sich in ihr Herz geschlichen, ohne zu fragen. Sina behielt es aber für sich und schloss es tief in ihrem Herz ein. Ihr Verstand war der Meinung, es wäre besser so. Und wieder war es richtig, denn sie hörte von Sven nichts mehr, nur das Maja ihr erzählte, dass er  schon länger eine Freundin hatte.

Ein Jahr später im August. In der Stadt gab es dann immer einen großen Markt. Sina und Maja fuhren jeden Nachmittag hin. Sie radelten vergnügt durch den Stadtpark zum Markt. Beide fuhren viel mit dem Fahrrad. Das Besondere daran war für sie, dass sie das gleiche Fahrrad besaßen. Allerdings hatte Sinas rote Knöpfe am Lenker und Majas weiße Knöpfe. Nachdem sie angekommen waren, trafen sie sich mit Torben und Arne am Autoscooter. Die beiden Jungs jobbten dort in den großen Ferien.
Maja war ein wenig in Torben verknallt und es schien, dass auch Torben interessiert war.
Maja und Torben verschwanden hinter einem Zelt. Bei den beiden hatte es wohl geknallt. Sina und Arne saßen im hintren Teil des Fahrgeschäftes auf eine Art Barren und unterhielten sich. Während der Unterhaltung kam ein Mädchen auf Arne zu und fragte nach Torben.
Arne zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung, wo er steckt, er war gerade noch da.“
„Okay“, sagte das Mädchen, „ich laufe eine Runde und dann komme ich gleich wieder.“
Der Markt war wie eine große 8 aufgebaut. Von daher konnte eine Runde schon etwas dauern.
Sina schaute ungläubig: „Da hast du ja glatt gelogen, wir wissen doch wo er ist. Wer war denn das?“
Arne grinste breit: „Na seine Freundin Carina, die kann ich schlecht hinter das Zelt schicken.“
Sina lachte laut: „Okay, das verstehe ich natürlich.“
Später gesellte sich Maja dazu. An ihrem Hals leuchtete ein riesiger Knutschfleck. Im selben Moment erschien dummerweise Carina wieder.
Sie starrte gebannt auf Majas Hals.
„Hast du den von Torben?“, fragte sie sofort.
Sina machte wilde Zeichen hinter Carinas Rücken, winkte und zog ihre Hand flach über den Hals, aber Maja verstand nicht.
Stattdessen sah Maja Carina belustigt an: „Ja klar, wieso?“
Sina biss die Zähne zusammen und klatschte sich gegen die Stirn, das ging nicht gut.
„Na der kann etwas erleben“, stieß Carina wütend hervor und stampfte davon.
In diesem Moment kam Torben um die Ecke und entdeckte Carina. Maja und Sina hörten es knallen.
Sina drehte sich um. Torben hatte alle fünf Finger von Carina im Gesicht.
Maja sah ihr verwundert nach: „Wer war denn das?“
„Seine Freundin“, antwortete Sina knapp und schluckte.
Maja riss entsetzt die Augen auf: „Oh je, alles klar. Da war meine Antwort wohl unklug. Aber ich glaube, ich habe eine Überraschung für dich. Lass uns mal zur Raupe gehen.“
„Okay“, Sina war gespannt.
Sina folgte Maja zur Raupe, die etwas weiter rechts vom Autoscooter aufgebaut war. Aus der Luft gesehen stand der Autoscooter oben in der linken Kurve der 8 und die Raupe in der rechten.
„Lauf ein Stück vor, bis zur Mitte“, sagte Maja und ein wissendes Grinsen lag in ihrem Gesicht.
Neugierig ging Sina ein Stück und in einer Gruppe von Jungs stand er, ihr Sven. Frech sah er sie an, lächelte und zwinkerte ihr zu. Dann erschien Maja hinter ihr.
„Hallo Maja“, begrüßte Sven sie, dann schaute er zu Sina: „Jetzt weiß ich auch, wer du bist. Wir kennen uns schon.“
„Jetzt weiß er auch, wer ich bin?“, dachte Sina entsetzt. „Na toll, da hat er dich ja gut in Erinnerung behalten.“
Sie zog hörbar die Luft ein. Erst meldete er sich nicht mehr und jetzt steht er da und strahlt, als ob nichts war. Ihr Verstand würde zu gerne Dampf ablassen. Sie war gekränkt, dass er Maja brauchte, um sie zu erkennen. Ihre Knie gaben nach und sie beschloss, cool zu bleiben. Sie unterhielten sich eine Weile und ihr Herz fing wieder an zu pochen. Besser wäre jetzt ein Rückzug.
„Gehen wir zurück?“, fragte Maja.
Sina nickte erleichtert: „Ja sicher, Torben und Arne warten sicher schon und fragen sich wohl möglich, wo wir so lange bleiben.“
Sie holte tief Luft, steckte die Nase die Luft und folgte Maja zum Autoscooter.
Es vergingen keine 30 Minuten und da stand Sven am Autoscooter.
Maja tickte Sina an und machte eine Kopfbewegung in seine Richtung.
Es war ein seltsamer Moment. Er stand dort in der Sonne und sah lächelnd zu ihr herüber. Wie eine Statue blieb er dort stehen, beide Hände in der Jackentasche. Er bewegte sich nicht.
Sina beschloss sitzen zu bleiben, sollte er doch gefälligst zu ihr kommen. Diesmal würde er sie nicht so einfach kriegen. Sie merkte gar nicht, wie sie bereits aufstand und zu ihm lief. Verdammt warum macht ihr Körper nicht das, was sie ihm sagte. Und dann stand sie vor ihm. Sie stellte sich leicht auf die Zehenspitzen, um nicht so klein zu wirken. Ein paar Sekunden sahen sie sich in die Augen.
Sven strich ihr über das Gesicht: „Wollen wir ein wenig über den Markt schlendern Kleine?“ Sina nickte. Gemütlich liefen sie über den Markt. Vor dem Fahrgeschäft Enterprise blieben sie stehen.
Sven grinste: „Wollen wir?“
Sina schluckte: „Ich weiß nicht, das geht ja über Kopf. Ich denke, das ist nichts für mich.“
Entsetzt sah sie ihn an und ihr war bei dem Gedanken ein wenig flau im Magen.
Er lächelte und versuchte, sie zu beruhigen: „Glaube mir, du wirst es gar nicht merken.“
Fröhlich zwinkerte er ihr zu und seine braunen Augen glänzten.
Dann nahm er ihre Hand und zog sie sanft hinter sich her. Nachdem er die Fahrkarten gekauft hatte, stiegen sie in eine Gondel. Die Plätze waren wie eine Bank hintereinander angeordnet. Sven stieg ein und setzte sich auf den hinteren Teil der Bank, Sina nahm vorne Platz.
Langsam nahm das Karussell Fahrt auf. Sina schluckte, gleich würde es über Kopf gehen. Ängstlich krallte sie sich an das Gitter.
Sven lachte: „Ich sagte doch, du brauchst keine Angst zu haben.“
Vorsichtig nahm er ihre Hand vom Gitter, zog sie zu sich nach hinten, legte ihr sanft die Hand ans Kinn und drehte ihren Kopf zu sich, während er sie mit der anderen Hand festhielt. Sina fühlte sich sicher.
Ihr Herz schlug wild und ihr Magen krampfte sich leicht zusammen, sie schloss die Augen. Und noch bevor die erste Drehung über Kopf ging, spürte sie seine Lippen auf ihren. Die Welt begann zu versinken und sich über Kopf zu drehen. Egal! Oder? Nein. Doch. Über Kopf drehen war einfach nur endlos schön. Das Einzige was sie außer Sven noch wahrnahm, war der Song „Such a Shame“, der von Weitem aus den Boxen des Karussells in ihr Ohr drang. Sie kuschelte sich an ihn und er hielt sie fest, als ob er sie nie wieder loslassen wollte. Aber leider hatte diese Fahrt ein Ende. Fast widerwillig lösten sie sich voneinander. Sie schlenderten zusammen eine Weile über den Markt und dann brachte Sven Sina zurück zum Autoscooter. Maja wartete schon, denn die beiden Mädchen mussten nach Hause. Es gab eine letzte Umarmung und einen tiefen Blick in die Augen. Er hatte so wunderschöne, warme braune Augen und wie gerne hätte Sina über dieses Muttermal auf seiner Wange gestrichen, aber sie ließ es.
Wie auf Wolken fuhr sie nach Hause und freute sich schon auf morgen.
Maja fuhr neben ihr und grinste.

Am nächsten Tag war Sina aufgeregt. Sie überlegte lange, was sie anziehen sollte. Sie fuhr zu Maja, um sie abzuholen. Als sie ankam, stand da schon ein Fahrrad. Sina hatte da so einen Verdacht.
Sie klingelte und nichts passierte. Sie klingelte noch einmal und dann rührte sich etwas. Aufgeregt und mit rotem Kopf öffnete Maja die Tür.
„Oh, ist es schon so spät?“
„Ja, es ist 15 Uhr.“
„Okay, irgendwie hab ich wohl die Zeit vergessen.“
Sie lief auf und ab und richtete ihre Kleidung. Irgendjemand kam die Treppe von oben herunter.
„Trommelwirbel“, dachte Sina.
In der Küche erschien Torben, ebenfalls leicht gerötet.
Jetzt musste Sina lachen, sie hätte zu gerne Carinas Gesicht gesehen, wenn sie es gewusst hätte.
Nachdem die beiden sich wieder gefangen hatten, ging es ab zum Markt.
Sina war glücklich, gleich würde sie Sven wiedersehen. Als sie beim Autoscooter ankam, setzte sie sich schnell und wartete. Immer wieder schaute sie suchend in die Menge, aber es war kein Sven dabei.
„Wollen wir zur Raupe“, fragte Sina Maja.
„Bist du sicher, dass du das möchtest?“
Sina nickte: „Ich kann diese Ungewissheit nicht ertragen.“
„Okay“, erwiderte Maja, „dann lass uns gehen.“
Mit Beinen wie Blei folgte sie Maja zur Raupe. Ihr war übel, aber sie brauchte Gewissheit.
Und tatsächlich war er da. Er unterhielt sich in einer Runde und hatte Spaß.
Er hatte den Arm um die Hüfte eines Mädchens gelegt, was wohl seine Freundin war. Genau das Gegenteil von Sina. Groß und blonde mittellange Haare. Dann sah auch Sven sie. Kurz trafen sich ihre Blicke. Sina unterdrückte die Tränen, drehte sich um und ging zurück zum Autoscooter. Sven sah sie diesen Sommer nicht mehr.
Sie dachte oft an ihn und sie wusste ja eigentlich auch vorher, dass er eine Freundin hatte. Also selber Schuld, warum hatte sie sich darauf eingelassen. Sina hoffte, er würde sich melden, aber selbst als sie 16 Jahre wurde, hörte sie nichts von ihm.
Einen Tag zwischen Weihnachten und Neujahr rief Sinas Tante sie zum Essen. Auf ihren Platz lag ein gelber Briefumschlag. Auf dem Umschlag stand ihr Name.
Sie fragte sich, wer ihr da geschrieben hat. Sie drehte den Umschlag um und erstarrte.
Da stand Svens Name als Absender. Aufgewühlt öffnete sie den Brief. Das Briefpapier war mit einem großen S versehen. Ob es wohl für Sven oder für Sina stand? Sie hatte ein wenig Angst vor dem, was drin stehen könnte.

27.12.1984

Hallo Sina!

Ich hoffe, Du hast Weihnachten gut überstanden.
Eigentlich wollte ich Dir ja eine Weihnachtskarte schicken, bin aber leider nicht dazu gekommen. Sei mir bitte nicht Böse, ja? Vielleicht hast Du auch nicht damit gerechnet, dass ich Dir schreibe. Oder bist Du noch sauer, was auf dem Augustmarkt vorgefallen ist? Dazu möchte ich sagen, dass ich mit meiner Freundin schon sehr lange zusammen bin und mich immer mit ihr gut verstanden habe. Du weißt auch, dass ich Dich sehr mag.
Ich kann doch nicht einfach Schluss machen.
Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, das verlange ich auch gar nicht.
Findest Du denn wirklich, dass wir unsere Verbindung deswegen lösen sollten, ich nicht. Denk noch einmal darüber nach, bitte. Wenn du mich wirklich verstehen solltest, schreib mir doch bitte.

                                                              Sven ♥


P.S.: Guten Rutsch ins neue Jahr. Grüße alle.


Nein, Sina verstand nicht. Wollte sie auch nicht. Außerdem hatte sie neuerdings einen Freund.
Es war mit ihm nicht dasselbe, nein nicht ansatzweise ein Gefühl wie sie es für Sven empfand, aber Sven hatte  deutlich geschrieben, dass er sich nicht von seiner Freundin trennen würde und die zweite Reihe wollte sie nicht. Und ihr Leben musste ja weiter gehen. Sie wusste, wenn sie sich darauf einließ, würde es wieder weh tun.
Trotzdem las sie immer wieder seinen Brief. Und eines Tages war die Sehnsucht so groß, dass sie ihm antwortete.
Von nun an trafen sie sich jeden Freitag um 18 Uhr. Sven war offiziell bei seinem Kumpel und Sina hatte ihrem Freund gesagt, sie sei freitags immer bei Antje.
Was Sina irritierte war, dass ihre Tante das billigte. Sie war immer gegen jeden, aber bei Sven machte sie eine Ausnahme. Sie schien ihn zu mögen.
Es waren immer wunderschöne Freitage. Sie unterhielten sich und lachten. Einen Freitag sah Sven ihre Singles durch. Plötzlich hielt er die Single „Such a Shame“ in der Hand.
„Ehrlich? Die hast du dir doch nicht etwa wegen unserer Karussellfahrt gekauft, weil es dort lief, als wir uns geküsst haben.“ Er grinste frech.
Sina wurde rot und stotterte. „Naja ... weißt du ...“
Sven lachte: „Schon gut, ich habe sie mir auch gekauft.“
Sie schubste ihn und lachte: „Blödmann.“
Sina war im 7. Himmel. Sie lebte von einem Freitag zum Nächsten.
Aber es kam der Freitag, der wieder alles veränderte.
Wie immer ging Sina vorher ins Bad und machte sich zurecht. Nachdem sie ihre Haare gewaschen hatte, wickelte sie ein Handtuch um den Kopf und sah zur Uhr.
„Noch im Fahrplan“, dachte sie, als es schon klingelte.
Sie hörte, wie ihre Tante die Tür öffnete: „Hallo Sven, komm rein, Sina ist hinten in ihrem Zimmer.“
Erschrocken blieb Sina stehen und sie hatte noch immer dieses Handtuch um den Kopf, als Sven den Flur entlang kam.
„Nein“, dachte sie, aber da stand er schon vor ihr. Sie merkte, wie ihre Ohren rot anliefen.
Sven musterte sie von oben bis unten und lächelte.
„Süß“, entfuhr es ihm.
Sina sah ihn fragend an.
„Das sieht aber süß aus mit dem Handtuch“, fügte er hinzu.
Sie nickte, die Situation war ihr etwas peinlich.
„Geh schon mal in mein Zimmer, ich bin gleich bei dir.“
Er grinste.
Schnell sprang Sina ins Bad, nahm das Handtuch ab und kämmte sich. Für Haareföhnen blieb keine Zeit mehr. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Die feuchten Haare hingen herunter und kringelten sich leicht. Sie sah unmöglich aus. Das war ja gründlich danebengegangen.
Sie holte den Tee aus der Küche und eile in ihr Zimmer, wo Sven es sich gemütlich gemacht hatte. Sie musterte ihn kurz. Er strahlte sie an. Sie hatte den Eindruck, dass die Sache mit dem Handtuch ihm nichts ausgemacht hatte.
Sina plauderte drauf los, erzählte von der Schule und das sie samstags Rechtskunde machen wollte, um es später in der Oberstufe als Prüfungsfach zu nehmen. Er hörte ihr zu und sah ihr immer wieder lange in die Augen. Sina wurde ein wenig nervös, aber sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Sie beugte sich vor, um ihn etwas zu zeigen. Sie sah zu ihm hoch und hielt den Atem an. Es war eine Spannung in der Luft, die sie kaum ertragen konnte. Sie wusste, gleich würde etwas passieren und die Erwartung ließ einen wohligen Schauer über ihren Rücken laufen. Sanft nahm er ihre Hand und zog sie auf seinen Schoß. Es folgte ein langer, zärtlicher Kuss. Sina kuschelte sich an ihn und genoss jede Sekunde und jede seiner Berührungen. Sein Kuss wurde fordernder. Sina blendete jetzt alle anderen Gedanken aus. Auf einmal brach er ab. Sina öffnete die Augen und sah ihn fragend an.
Er sah sie an und seufzte: „Es wäre nicht gut, glaube mir.“
Sina war verwirrt und mal wieder überfordert.
Sie hatte noch nie so empfunden. Keine Berührung von ihrem Freund hatte jemals so viel in ihr ausgelöst. Außerdem drängelte ihr Freund immer und sie ließ sich nicht unter Druck setzen.
Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie hätte fragen können, was er damit meinte, aber sie beschloss, nur zustimmend zu nicken.
Er lächelte und setzte sich auf seinen Platz. Auch Sina setzte sich wieder. Er redete mit ihr, als ob das alles gerade nicht passiert wäre, nur seine Augen sagten etwas Anderes und es blieb dieses angenehme Prickeln zwischen ihnen. Sie vergaßen die Zeit.
Abrupt sprang er auf: „Oh je, so spät? Ich muss nach Hause, sonst bekomme ich Ärger.“
Er zog seine Jacke an und stürmte zu seinem Fahrrad. Da kam der nächste Schock. Ein Reifen war kaputt. Sina rief schnell ihren Onkel. Sinas Vater hatte einen Fahrradladen um die Ecke und Sina wusste, dass ihr Onkel an einen Reifen kam. Ihr Onkel half Sven bei der Reparatur und Sven versprach beim nächsten Mal den Reifen zu zahlen.
Sina und Sven wechselten noch einmal einen tiefen Blick und dann fuhr er davon. Er war sich sicher Ärger zu bekommen, weil er zu spät nach Hause kam.
Den nächsten Freitag sollte Sina umsonst warten. Sven würde nicht kommen.
Sina war verletzt. Sie verstand die Welt nicht mehr. Kein Wort, kein Brief, kein Anruf.
In ihrem Schmerz schrieb sie ihm einen nicht so netten Brief, aber sie erhielt keine Antwort.
Sie versuchte, ihn telefonisch zu erreichen, aber sie sprach nur mit seiner Mutter.
Ja sie ist sogar hingefahren. Seine Mutter öffnete die Tür und sagte ihr, dass Sven nicht da sei. Aber sie lächelte Sina an: „Du bist Sina oder?“ Sina nickte und verabschiedete sich.
Das konnte doch nicht sein, hatte sie all das geträumt? Was war passiert? Sie hatte keine Ahnung.
Sie versuchte es weiterhin mit ihrem Freund.
Aber es kam noch schlimmer. Eines Tages lag wieder ein Brief auf ihren Platz.
Sie wollte ihn öffnen, aber er klebte am Umschlag. Sie sah ihre Tante verständnislos an:
„Wenn du ihn schon liest, dann lasse ihn bitte gleich offen. Festkleben ist keine gute Idee.“
Mit rasendem Herzen las sie diesen Brief und Tränen rannten immer wieder über ihr Gesicht. Was war passiert?

Liebe Sina!

Es tut mir leid, dass es mit uns beiden so enden musste. Es war echt schön mit dir, aber es klappt wohl nicht mit uns. Bitte sage deinem Onkel, dass es mir leidtut, dass ich das Geld nicht eher bringen konnte. Ich war wohl in letzter Zeit verändert, habe ich recht? Ich glaube, du bist auch einverstanden, wenn wir uns nicht mehr sehen werden. Ich hoffe, du rufst mich auch nicht an.
Irgendwie könnte ich jetzt losheulen, denn ich mochte Dich sehr gerne.
Sei mir bitte nicht böse, so fällt es mir leichter.

Sven
 
P.S.: Ich werde Dich nie vergessen Kleine


Ein großes Loch öffnete sich und Sina fiel, fiel und fiel. Sie war am Boden zerstört, gerne hätte sie jetzt eine Mutter gehabt, die sie in den Arm nimmt und tröstet. Aber ihrer Mutter war sie leider total egal und ihre Tante war für so einen Job nicht geeignet, Sie tat zwar alles um Sina eine Zukunft zu ermöglichen, aber Gefühle gab es in dieser Familie nicht viel. Ihre Tante führte ein hartes Regime. Aber Sven hat sie aus irgendwelchen Gründen geduldet. Es half alles nichts, sie musste mit diesem Brief leben, sie wusste nur noch nicht wie. In ihr war eine Welt zusammen gebrochen, aber nach außen war sie gut gelaunt, es durfte ja niemand etwas merken. Stück für Stück versuchte sie Sven zu vergessen, aber es ging nicht. Die Gefühle für ihn waren immer noch dieselben. Aber das Leben ging weiter. Selbst mit Maja und Antje konnte sie nicht darüber reden.

Am Anfang des neuen Jahres lag wieder ein Brief auf ihren Platz. Diesmal offen.
Sina war nicht begeistert, dass ihre Tante ihre Briefe las, aber wenigstens klebten sie nicht mehr am Umschlag.

Hallo Sina!

Frag Dich jetzt bitte nicht, warum ich Dir schreibe. Um ehrlich zu sein, ich habe gerade alle Deine Briefe gelesen, und deshalb schreibe ich Dir.
Auch wenn wir vielleicht nichts mehr voneinander wissen wollen, vielleicht lag es daran, dass unsere Beziehung zu weit ging, was zum großen Teil ja auch meine Schuld war, könnte man trotzdem ruhig von sich hören lassen. Es tut mir leid Sina, wenn Du nicht weißt warum.
Aber aus diesen Sätzen, wenn Du genau darüber nachgedacht hast, was ich meine, wirst Du sehen, dass man 3 Wörter nur dafür braucht, um diese ganzen Sätze wiederzugeben.

Sven

P.S.: Ich hoffe dass wir diese 3 Wörter wieder für einander finden.

Jetzt war Sina endgültig verwirrt. Was sollte sie nur davon halten. Irgendetwas ging in ihrem Leben total schief.
Am Sonntag versuchte sie, Sven telefonisch zu erreichen. Konnte aber nur mit seiner Mutter sprechen. Zu gerne hätte sie seine Stimme gehört. Aber diesmal musste sie nicht lange warten, kurze Zeit später kam der nächste Brief:

Liebe Sina!

Meine Mutter sagte, dass Du mich am Wochenende erreichen wolltest, aber ich war leider nicht da.
Ich möchte Dir durch diesen Brief einiges sagen, was ich am Telefon vielleicht nicht könnte.
Wie Du weißt, habe ich Dir einen Brief geschrieben, in dem einige unverständliche Sätze drin standen.
An diesem Abend hatte ich stark gefeiert. Nun weißt du durch diesen Brief, dass ich noch immer an Dich denke und was ich für Dich empfinde.
Wenn Du meinst wir könnten noch einmal zueinander Kontakt aufnehmen, dann rufe mich doch bitte am Dienstag an.

Ich hoffe noch immer Dein Sven


Sina schüttelte den Kopf. Was für eine Frage, natürlich war er noch immer ihr Sven. Er war ihre große Liebe, wenn auch irgendwie widerwillig. Aber bei allen anderen Dingen verstanden sie sich auch ohne Worte, nur was ihre Beziehung zueinander anging, konnte sie ihm absolut nicht folgen. Sie hatte keine Ahnung, welchen Platz sie in seinem Leben einnehmen sollte. Aber sie würde ihn anrufen, nein sie musste ihn anrufen, sie konnte nicht anders, als ob eine geheime Macht Besitz von ihr ergriff und sie einfach dazu zwang. Sie ertappte sich ja immer wieder dabei, dass sie in Sachen Sven anders handelte, als ihr Verstand ihr riet. Und das Schlimme war, es fühlte sich nie falsch an.
Nach dem Gespräch am Dienstag mit Sven war Sina glücklich. Alles war wie vorher, sie trafen sich wieder jeden Freitag um 18 Uhr. Sie redeten, lachten und tauschten tiefe Blicke aus. Sven erzählte ihr, dass er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann anfangen würde. Sina freute sich für ihn. Eine Woche kam er an einem Samstagvormittag. Als Sven nach Hause musste beschloss Sina, ihn bis zur kleinen Brücke zu begleiten, die ihre beiden Stadtteile trennte. Das Wetter war traumhaft sonnig und warm.
Vergnügt radelten sie zur Brücke und stiegen ab. Sie schoben ihre Räder bis unter die Autobahnbrücke und stellten sie dort ab. Um sie herum war nur Natur. Sie genossen es und plauderten ein wenig und lachten. Er neckte sie wieder einmal, weil sie so viel kleiner war als er. Sina merkte, wie die Spannung zwischen ihnen stieg. Er nahm sie in den Arm und sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und schlang ihre Arme um seinen Nacken. Und wieder kam es zu einem langen zärtlichen Kuss. Sina schloss die Augen, während seine Lippen nicht von ihr ließen, schob er sie langsam ein kleines Stück zurück und drückte sie sanft gegen einen Brückenpfeiler. Instinktiv spürte sie, dass es ein Fehler sein würde und dass sie ihn jetzt wieder verlieren würde, trotzdem ließ sie es geschehen. Sie genoss einfach nur den Augenblick, wunschlos glücklich zu sein. Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, ob er den nächsten Freitag kam oder nicht. Sie standen eine ganze Weile eng umschlungen unter der Brücke, so als ob sie nichts trennen könnte. Dann eine letzte Umarmung, ein letzter Kuss.

Sina sollte recht behalten, den nächsten Freitag wartete sie vergebens auf Sven. Aber sie wusste genau, irgendwann würde sie ihn wiedersehen, ganz bestimmt sogar. Mit ihrem Freund lief es immer schlechter. Er erzählte bei seinen Freunden falsche Dinge über sie und sie war total genervt. Eigentlich war es Zeit, sich von ihm zu trennen. Sina war gerade 17 geworden. Im Sommer fuhr sie immer mit dem Rad zur Schule, aber im Winter nahm sie den Bus. Es war ein Dienstag und sie wollte etwas früher an der Schule sein, sodass sie einen Bus eher nahm. Zwei Haltestellen später hielt der Bus und sie wusste es. Sie wusste, sie würde ihn wiedersehen. Er stieg in den Bus und kam in ihre Richtung. Als er sie sah, lächelte er und kam zu ihr.
„Hallo Kleine“, flüsterte er.
„Was machst du hier im Bus?“, wollte Sina wissen.
„Dienstags habe ich Berufsschule.“
„Okay, dann steigen wir an derselben Haltestelle aus. Unsere Schulen liegen sich genau gegenüber“, erwiderte Sina.
Sie redeten die ganze Fahrt. Sven brachte Sina bis zur Tür ihrer Schule. Der Schulhof war leer. Zärtlich hob er ihren Kopf und küsste sie.
Leise hörten sie die Klingel seiner Schule.
„Ich glaube, ich muss los“, sagte er mit Blick in Richtung seiner Schule.
Sina nickte.
Von nun an trafen sie sich jeden Dienstag im Bus und er brachte sie bis zur Schule. Zwischen ihren Schulen war ein von Büschen umwachsener Weg. Oft blieben sie auch dort stehen und genossen ihre Zweisamkeit.
Ein Dienstag war anders. Sina freute sich schon auf Sven. Doch an der Haltestelle stieg stattdessen seine Freundin ein. Zur Verstärkung hatte sie sich noch eine Freundin mitgebracht. Beide kamen auf Sina zu und stellten sich neben sie. Sina hielt die Luft an. Sie war ein wenig nervös, weil sie nicht wusste, was passieren würde. Sie hatte Svens Freundin seit dem Markt nicht mehr gesehen. Sina atmete tief durch. Sie stand da und hörte zu, wie die beiden Mädchen über sie heftig lästerten. Sina atmete auf, es hätte Schlimmeres passieren können. Damit konnte sie leben. Sie war nur erstaunt, woher Svens Freundin von ihr wusste. Ein paar Haltestellen weiter stiegen die beiden Mädchen aus.
Am nächsten Dienstag erzählte sie Sven davon. Er konnte es sich auch nicht erklären und war entsetzt. Er selber wäre krank gewesen. Das war wieder einmal das vorläufige letzte Mal, wo sie ihn sah.

Bei Sina im Leben ging alles schief. Sie hörte von Sven nichts mehr und sie hatte sich von ihrem Freund getrennt. Aus verschiedenen Gründen beschloss sie, das Gymnasium zu verlassen. Da sie sich erst sehr spät dazu entschieden hatte, meldete sich für ein Jahr an der Höheren Handelsschule an.
Genau genommen war es keine schlechte Entscheidung. Sie kam in eine Klasse, die alle bereits den erweiterten Abschluss hatten und der Schulstoff war megaeinfach. Sie lernte auch sehr viel über sich. Vor allem, dass sie wohl keine graue Maus war. Die Schule machte richtig Spaß. Im Gegensatz zum Gymnasium war der Stoff total super einfach und sie schüttelte die guten Zensuren nur so aus dem Handgelenk. Und sie hatte dort neue Freunde gefunden. Hinter ihr saß Robby, er kam aus Kattowitz und er flirtete die ganze Zeit mit ihr. Sina mochte Robby. Die neue Schule gefiel ihr wirklich richtig gut. Im Deutschunterricht sprachen sie gerade über Substantive und warum man sie groß schrieb, nun sollte sie das Substantiv blau unterstreichen. Sina gähnte, wie langweilig. Sie nickte ihrem Tischnachbarn zu, der holte Papier aus seiner Tasche und sie spielten Schiffeversenken. Donnerstags hatte sie erst um 10 Uhr Schule und dann zwei Stunden BWL und anschließen Religion. Meistens trafen sie sich morgens irgendwo zum Frühstück und überlegten dann, ob sie noch zur Schule gingen oder ob es sich für heute nicht lohnte. Eigentlich reichte es ja, wenn man zu den Arbeiten da war. Montags wurden gerne die letzten drei Stunden geschwänzt. Da gab es Steno, Maschinenschreiben und Büroorganisation. Aber die Lehrerin machte häufig 3 Stunden Steno. Also beschloss die Klasse einstimmig, in die Stadt zu fahren und die Stunden ausfallen zu lassen.
Es war Dienstag und es klingelte zur großen Pause. Vergnügt lief Sina auf den Pausenhof. Sie wollte eigentlich zur Mensa, weil da spielte ihre Klasse immer Schwimmen. Das war sehr lustig. Klar reichte die Pause nie, um das Spiel zu beenden, aber man wusste ja, wer zuletzt zum Unterricht kam, hatte gewonnen. Aber diesmal hielt sie jemand davon ab. Auf dem Weg stand Sven vor ihr.
„Ja danke Schicksal“, schimpfte sie in sich hinein, „warum quälst du mich so? Was soll das?“
„Hallo Kleine“, hörte sie seine Stimme.
Sie sah auf: „Hallo Sven.“
Alles wieder auf Anfang. Sie kam sich langsam vor wie damals ihr Plattenspieler. Nadel zurück auf „Wishing“. Diesmal war er aber offener. Er nahm sie auch in der Schule in den Arm. Sie trafen sich nun jeden Dienstag in der großen Pause. Eigentlich hatte Sina dieses Mal ein gutes Gefühl. Alle konnten sie sehen, sie haben sich nicht mehr versteckt. Sina war mittlerweile 18 Jahre und hatte ein eigenes Auto. Es war zwar alt, aber bezahlt und gelegentlich fuhr es sogar.
Einen Dienstag war das Treffen mit Sven sehr intensiv. Nachdem es zum Unterricht geläutet hatte, gab Sven ihr einen Kuss, steckte ihr einen Brief zu und verschwand.
Mit gemischten Gefühlen sah Sina den Brief an.

„For You My Love“, stand auf den Brief. Sie öffnete ihn aufgeregt.

Betreff. Erklärung

Sehr geehrte Sina!

Ich wollte Ihnen heute einiges sagen. Wir kennen uns nun einige Jahre schon sehr gut, auch wenn wir nicht zueinandergefunden haben.
Ich wollte Dir auch nur sagen, dass ich Dich seit dem ersten Tag in mein Herz geschlossen habe. Leider trennen uns zwei verschiedene Welten. Es ist traurig, aber erste einmal nicht zu ändern. Aber vielleicht hält deshalb unsere Liebe zueinander an. Wir wissen nicht, wie es geworden wäre, wenn wir zusammen gewesen wären. Ich liebe Dich.
Vielleicht können wir uns jetzt öfter sehen. Ich hole Dich ab und wir fahren irgendwo hin.

In Liebe Dein ♥Sven♥

Zitternd las Sina den Brief immer und immer wieder. Sollte es stimmen, vielleicht würde sich jetzt alles ändern.
Sie war gespannt und glücklich und konnte den nächsten Dienstag kaum erwarten. Aber sie sollte ihn nicht mehr sehen.
Diesmal traf es sie besonders hart. Hätte sie sich bloß nicht so sehr gefreut. Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein und ließ den Tränen freien Lauf. Noch einmal würde sie es nicht verkraften.
Aber da war ja Robby. Weil sie ihn mochte, ließ sie sich auf seine Flirts ein. Und tatsächlich fing sie langsam an Gefühle für ihn zu entwickeln. Sie trafen sich ein paar Mal und Sina merkte, dass Robby ein richtig netter Kerl war. Okay in der Schule gab er sich anders, aber Sina konnte sich mehr mit ihm vorstellen.
Zum Schluss des Schuljahres gab es eine Klassenfahrt nach Amsterdam. Da die Klasse nicht groß war, sagte der Klassenlehrer, er würde eine Berufsschulklasse mit hinzunehmen, damit der Bus voll wäre und die Kosten nicht so hoch. Sina freute sich auf die Klassenfahrt und auf Robby. Da Plätze frei waren, wollte er seinen Bruder mitbringen. Sina überlegte genau, was sie an diesem Tag anzog und wie sie sich frisierte. Alles musste passen. Sie wollte einen perfekten Eindruck hinterlassen.
Sie sah in den Spiegel und war zufrieden. Aufgeregt stieg sie in ihr Auto, holte noch eine Schulfreundin Sabine ab, und dann ging es zur Schule. Sie parkte ihren Wagen. Dann folgte sie Sabine zum Bus. Beschwingt lief sie um den Bus zur Tür, sah hoch und ... vor ihr stand Sven.
„Fuck“, dachte sie, „war ja klar, dass es genau die Berufsschulklasse war.“
Sie beschloss, diesmal auf Abstand zu bleiben, auch wenn es weh tat.
„Oh hallo Sven, deine Klasse fährt mit?“
Auch er klang sehr reserviert. Sina schluckte, vielleicht war es besser so, aber was war passiert? Sie wusste es nicht.
Sie stieg mit Sabine in den Bus. Sven nahm ein paar Plätze hinter ihr Platz. Auf die andere Seite von Sina setzten sich Robby und sein Bruder. Sina hatte das Gefühl, dass Robbys Bruder sie musterte.
„Okay“, dachte sie, „jetzt bloß kein Fehler.“
Sie kamen ins Gespräch und sie genoss den Flirt mit Robby, als plötzlich von hinten ein Busvorhang auf ihrem Kopf landete.
„Was ist das denn?“, fragte Sabine mit aufgerissenen Augen.
„Frag nicht“, stöhnte Sina, insgeheim machte ihr Herz aber einen Hupfer.
Sie sah nach hinten. Sven fing an, über die Plätze hinweg mit ihr zu reden. Sie gab ihm kurze Antworten und versuchte, sich wieder mit Robby zu unterhalten. Der war mittlerweile in einem hektischen Gespräch mit seinem Bruder vertieft, leider auf Polnisch, aber es klang von der Tonlage nicht gut. Da kam schon der nächste Vorhang angeflogen.
Sabine duckte sich: „Ich glaub es ja wohl nicht.“
„Frag mich mal“, erwiderte Sina verzweifelt.
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sven wollte sie offensichtlich nicht. Aber scheinbar sollte sie auch niemand anders haben.
Kurz nach der Grenze machte der Bus eine Pause. Sina stieg aus, sie brauchte frische Luft.
Auch Sven stieg aus. Er kam zu ihr und fing ein Gespräch an und scherzte. Sina lief es heiß und kalt über den Rücken. Jetzt ging wirklich alles daneben. Er fing an, mit ihr zu flirten, wobei er sie auf einen hohen Stein setzte, auf dem die Benzinpreise angeschlagen waren. Alleine kam sie dort nicht herunter.
Sie war drauf angewiesen, dass er sie wieder runter holte. Besorgt schaute sie sich nach Robby um. Der sah ziemlich sauer aus. Sven ließ sich lange bitten, aber dann packte er sie und ließ sie eng an sich heruntergleiten.
Sina hoffte, den Tag in Amsterdam mit ihm verbringen zu können. Vielleicht würde sich dann einiges klären. Ihre Hoffnungen wurden zerstört.
In Amsterdam trennten sie sich ihre Wege. Sven zog mit seinen Klassenkameraden los. Wieder blieb Sina verletzt zurück. Dann zog sie mit Sabine los und erkundete Amsterdam. Auf der Rückfahrt war es ruhiger. Sven kam nach vorne, um mit ihr zu reden, ging aber später ohne Abschied. Robby allerdings sprach nie wieder ein Wort mit ihr.
Sina hatte an einem Tag zweimal verloren. Das war ihr zu viel. Das war der Moment, wo sie beschloss, dass nie wieder jemand ihr Herz erreichen sollte.
Es war nicht das letzte Mal, dass sie von Sven hörte. Er sollte diesen Auftritt noch übertreffen.
Sina hingegen schloss die Liebe zu ihm in ihrem Herzen ein, wie einen gut gehüteten Schatz, der nur sie etwas anging.

Eines Tages als Sina von der Arbeit kam, sah ihre Tante sie finster an und schob ihr einen Zettel mit einer unbekannten Telefonnummer hin.
„Du sollst Sven anrufen“, sagte sie „er ist in Bremerhaven.“
„SVEN?“, ungläubig sah Sina auf die Nummer.
Sofort ging sie zum Telefon und rief ihn an.
„Hallo Sina“, freute er sich, „schön, dass du anrufst. Ich bin jetzt in Bremerhaven beim Bund und habe hier eine kleine Wohnung. Ich würde dich gerne zu mir einladen. Ach ja. Ich habe auch eine gute Nachricht. Ich habe mit meiner Freundin Schluss gemacht.“
Er machte eine Pause und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Doch seine nächsten Worte gaben ihr den endgültigen Todesstoß: „Ich habe jetzt eine Neue. Ich habe die Christine in einer Disco kennengelernt.“
Ihr fiel der Hörer aus der Hand. Was war denn dies für eine Aktion. Es fühlte sich an, als ob er einen Dolch in ihr Herz gestoßen hätte und würde die Klinge noch ein paarmal herum drehen. Sie schnappte nach Luft und kämpfte mit den Tränen. Nein, merken sollte er nichts. Den Triumph würde sie ihm nicht gönnen. Wenn er doch eine neue Freundin hatte und eine Beziehung mit ihr nicht einmal in Betracht zog, was sollte sie dann in Bremerhaven? Und wenn sie fahren würde, wie würde sie es verkraften, was er ihr dann wohl möglich erzählte. Könnte sie danach sicher wieder nach Hause fahren?
Tausend Gedanken schossen ihr während des Telefonats durch den Kopf. Tapfer hielt sie die Tränen zurück, er sollte nicht merken, wie schwer er sie verletzt hatte. Aber sie traf eine Entscheidung, sie würde nicht fahren.
Sina riss sich zusammen und telefonierte weiter mit ihm, stellte Fragen zu seiner Freundin. Sie versuchte, unbeschwert zu wirken, aber es kostete sie viel Kraft. Sie sagte ihm dann, sie würde sich wieder melden. Natürlich hatte sie das nicht mehr vor. So schwer es ihr auch fiel.

Später las sie dann seine Heiratsanzeige in der Zeitung und ein paar Wochen danach die Geburtsanzeige seiner Tochter. Ihre Tante war so lieb, sie ihr auf das Frühstücksbrett zu legen.
Sie brauchte dringend einen Schlussstrich, sonst hätte es sie in den Wahnsinn getrieben. Sie beschloss daher, ihn anzurufen. Sie hatte eiskalte Hände, als sie seine Nummer wählte. Sie nahm an, dass seine Frau im Krankenhaus war und sie so kurz sprechen könnten, ohne dass es für ihn Konsequenzen haben würde oder Fragen aufwarf.
Er ging ans Telefon. Sina hielt für einen Moment die Luft an. Ihr Magen krampfte und ihre Hände zitterten. In ihrem Kopf drehte sich alles und sie hatte das Gefühl, ihr Herz pochte bis zum Hals. Bestimmt würde es jede Minute stehenbleiben. Sie hatte sich nichts zurechtgelegt. Die Gefühle überwältigten sie. Wie sollte sie ihm was sagen? Sie hatte gehofft, er würde ihr alles erklären, aber das Gespräch war von peinlichem Schweigen geprägt. Anscheinend wusste keine Seite so genau, was sie sagen sollte. Sina hatte aber nicht den Eindruck, dass er das Telefonat beenden wollte. Entweder war es ihm egal oder es ging ihm wie ihr. Dann riss sie sich zusammen, es nutzte nichts. Unter Tränen wünschte sie ihm alles Gute und gratulierte zu seiner Tochter. Das Gespräch fiel ihr unendlich schwer und tat verdammt weh. Er sollte wissen, dass sich ihre Gefühle nicht verändert hatten. Es sollte niemals Hass zwischen ihnen stehen.
Ein paar Wochen später traf sie ihn beim Einkaufen. Er stand mit seiner Frau an der Kasse. Während sie mit der Kassiererin sprach, legte er den Einkauf aufs Band. Dabei hob er immer wieder den Kopf und sah zu Sina. Er sagte kurz etwas zu seiner Frau und verließ die Kasse.
Sina warf schnell einen Blick auf Christine. Auch sie war groß und blond.
Dann kam Sven zu ihr. Sina atmete flach und ihr wurde heiß.
„Hallo Kleine.“
„Hallo Sven.“
Fragend sah Sina ihn an. Zu gerne hätte sie über das Muttermal auf seiner Wange gestrichen, aber sie durfte es nicht. Das tat weh. Sein Blick war leicht gesenkt, als er sie ansprach.
„Weißt du“, murmelte er, „ich habe mir immer eine Familie gewünscht. Du hast in all den Jahren immer nur von Schule und Karriere gesprochen. Du hast so viele Ziele und Träume. Ein Leben als Hausfrau und Mutter? Ich denke, dass du an meiner Seite nicht glücklich geworden wärst.“
Er lächelte sie an, nickte kurz und ging zurück zu seiner Frau. Aber Sina reichte die Erklärung in diesen Moment nicht.
Dann machte Sina einen riesen Fehler. Sie heiratete umgehend ihren damaligen Freund aus trotz. Sollte Sven es doch genau so lesen wie sie. Diese unüberlegte Handlung sollte sie teuer zu stehen kommen. Die Ehe hielt auch nur 4 Jahre. Dann trennte sich Sina.
In 2002 fand sie ihn auf einer Online-Plattform. Doch sie schrieb ihn nicht an. Kurze Zeit später sah sie, dass auch er auf ihrer Seite war.

„Ja, so war das damals“, dachte Sina und legte die Briefe zurück in die Schublade.

Anschließend fuhr sie zu Antje. Bei einem Tee redeten die Freundinnen darüber.
Antje schüttelte mit dem Kopf: „Hättest du dich damals besser nicht einfach nur verloben können? Musste es gleich eine Hochzeit sein? Es wäre für dich besser gewesen.“
Sina lachte: „Stimmt, hättest du es nicht 30 Jahre eher sagen können?“
Antje stellte ihre Tasse zurück auf den Tisch: „Du hast mich nicht gefragt.“
Sie mussten lachen.


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