Die Höllenfahrt

 

© Silke Herbst 2007

 

Es war ein Montag im Frühling 1987 in Wilhelmshaven. Dieser besagte Montag ist mir gut im Gedächtnis geblieben. Es gab an diesem Tag  für mich zwei besondere Ereignisse der merkwürdigen Art. Eigentlich verlief zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben alles super. Ich hatte mich frisch von meinem langjährigen Freund Sven getrennt und seit einigen Wochen den Führerschein in der Tasche. Stolz hatte mein Großvater mir zu meinem achtzehnten Geburtstag einen Golfschlüssel überreicht. Zwar war der Wagen dreizehn Jahre alt, aber ich war glücklich einen fahrbaren Untersatz zu haben. Natürlich hatte das Auto so seine Tücken, aber daran gewöhnte man sich schnell. Bis auf die Sache mit der Kupplung. Jedes mal wenn ich die Kupplung trat, gingen die Scheibenwischer an und wieder aus. Bei Sonnenschein war es manchmal ganz schön anstrengend. Immer wenn ich in den nächsten Gang schaltete, quietschte es auf den Scheiben. Das war schon ziemlich lästig. Noch schlimmer war es bei Regen, weil ich da ja durchgehend kuppeln musste, damit die Scheibenwischer funktionierten.  Dann war da noch die Sache mit dem Blinken. Rechts funktionierte er einwandfrei, wenn man jedoch links abbiegen wollte, funktionierte das Blinklicht nur, wenn man einmal kräftig dagegen trat. Einigen meiner Freude war es etwas unangenehm, wie zum Beispiel Mike. Obwohl er von mir vor der Fahrt über diese Tatsache informiert wurde, versank er im Beifahrersitz, als ich an der Plazakreuzung ausstieg und tatsächlich gegen mein Auto trat. Als ich wieder einstieg, war er fast bis in den Fußraum verschwunden.

„Hoffentlich hat mich keiner gesehen“, stöhnte er mit eingezogenem Kopf. Dann spreizte er  die Finger seiner rechten Hand und verdeckte damit sein Gesicht, während er krampfhaft versuchte noch weiter runterzurutschen.

Gelegentlich blieb der kleine rote Golf auch ohne ersichtlichen Grund einfach stehen. Da gegen war ich zwischenzeitlich gewappnet. Mein Vater hatte mir für solche Fälle ein Abschleppseil geschenkt. Ungelogen war es das meist benutzte Teil an meinem Auto. Natürlich hatte er auch Vorteile. Er verbrauchte zum Beispiel nur vier Liter auf hundert Kilometer. Dass es sich hierbei um den Ölverbrauch handelte verschwieg ich lieber. Aber egal, ich hatte ein eigenes Auto und nur das zählte.

So fuhr ich fast jeden Abend mit meinem Golf zu einer Freundin, die ungefähr 100 Meter von meinem Zuhause entfernt wohnte. Natürlich fuhr ich nicht auf direktem Weg zu ihr. Ich wollte ja schließlich Autofahren. Also fuhr ich aus Wilhelmshaven heraus,  über Sengwarden, dann nach Fedderwarden und wieder zurück nach Wilhelmshaven zu meiner Freundin Alma. Auf diese Weise konnte ich meine Fahrt um ca. 20 Minuten verlängern, vorausgesetzt, der Wagen blieb nicht stehen.

An diesem bestimmten Montag fuhr ich schon spät nachmittags zu Alma. Alma war bereits um die fünfzig Jahre und die Mutter von Mike. Ich parkte mein Auto an der Straße und ging hinein. Nachdem wir es uns mit einer guten Tasse Tee in ihrer kleinen Küche gemütlich gemacht hatten, bat Alma mich, Mike von der Fahrschule abzuholen.

„Ich muss nachher noch kurz zur Arbeit“, sagte sie, „es wird nicht lange dauern, ich werde es jedoch nicht schaffen, pünktlich an der Fahrschule zu sein.“

„Kein Problem Alma, natürlich hole ich Mike ab.“

In diesem Moment fuhr Mikes Kumpel Holger auf die Auffahrt. Durch das Küchenfenster konnte man die Auffahrt gut sehen und noch ein kleines Stück die Straße hinunter schauen. Ich hatte mein Auto dummerweise so geparkt, dass ich es leider nicht sehen konnte. Dabei war ich doch so stolz darauf.

Holger kam herein und setzte sich zu uns. Alma schenkte die nächste Runde Tee ein und unterhielt sich dabei mit Holger. Unauffällig spähte ich aus dem Fenster. Auf der Auffahrt stand der Escort XR3i von Holger. Seine silberne Farbe schillerte in der mittlerweile untergehenden Sonne. Heimlich schwärmte ich für diesen Wagen.

„Denkst du an Mike“, riss Alma mich aus den Gedanken.

Irritiert sah ich sie an.

„Die Fahrschule“, half Alma mir auf die Sprünge.

„Ja natürlich“, ich war wieder im Bilde, „ich fahre sofort los.“

Ich stand auf und griff nach meinen Autoschlüssel: „Bis gleich.“

„Moment noch“, hielt Holger mich zurück und streckte mir seine Schlüssel entgegen, „ich glaube es ist besser, wenn du heute mal mein Auto nimmst.“

„Wieso? Mein Golf steht doch draußen vor der Tür.“

„Glaube mir, mein Gefühl sagt mir, du solltest besser mit meinem Wagen fahren.“

„Aber wieso denn?“

Wilde Gedanken kreisten in meinem Kopf und mein Gehirn verstand die Welt nicht mehr. Ich durfte tatsächlich mit dem XR3i fahren, mit Holgers Heiligtum? Das konnte nur ein Traum sein oder hatte er etwa getrunken? Nein, Holger war Sportler und trank eigentlich kein Alkohol. Er machte auf mich auch einen völlig nüchternen Eindruck.

„Es ist sicherer“, bemerkte er nachdrücklich und schaukelte nochmals demonstrativ mit dem Schlüssel, „wenn du heute mit meinem Wagen fährst.“

Ein geheimnisvolles Lächeln lag auf seinem Gesicht.

Ich überlegte kurz, wollte mir die Chance aber eigentlich auf gar keinen Fall entgehen lassen. Entschlossen nahm ich den Schlüssel und rauschte wie auf Wolken hinaus. Mein Herz klopfte wie wild, als ich den Wagen aufschloss und mich hineinsetzte. Sanft, ja fast zärtlich strichen meine Hände über das Lenkrad. Alles sah irgendwie anders aus, wie in meinem Auto. Schöner, größer und toller. Aufgeregt trat ich  auf die Kupplung und startete den XR3i.

„Bloß erst einmal heile von der Auffahrt herunterkommen“, schoss es mir durch den Kopf. „Alles, nur nicht blamieren, schon gar nicht vor Holger.“

Mein suchender Blick erspähte den Schaltknüppel. Wo war der Rückwärtsgang. Mal schauen.

Erst sah alles ganz normal aus, aber dann kam für mich das erste Problem.

„Erster, zweiter, dritter, vierter …“, Fassungslosigkeit machte sich in mir breit und meine Gedanken überschlugen sich, „ … fünfter Gang? Wieso fünfter? Wofür braucht man einen fünften Gang? Und wo zum Teufel ist jetzt der Rückwärtsgang? Ach da, gefunden.“

Der erste Adrenalinschock war überwunden. Vorsichtig tastete ich den Schaltknüppel ab. Ziehen oder drücken hieß jetzt die nächste Frage, die durch probieren schnell geklärt war.

Draußen wurde es allmählich dunkel und somit kam ich auch schon zum nächsten Problem. Wo war das verflixte Licht? Ich war bereit für den nächsten Adrenalinstoß.

Nachdem ich fast alle Schalter und Hebel betätigt hatte, erstrahlten plötzlich die Scheinwerfer und die Beleuchtung des Cockpits.

„Geschafft!“

Die schillernden Lichteffekte im Cockpit zogen mich sofort in ihren Bann. So ähnlich stellte ich mir die Schaltzentrale in einem Ufo vor.

Mein Herzschlag erhöhte sich noch einmal, als ich ganz sanft die Kupplung kommen ließ. Mit einem Ruck stand der Wagen auf der Straße.

„Man ist der schnell“, dachte ich beeindruckt, bis ich bemerkte, dass ich die Straße besser räumen sollte.

Auf ging die Fahrt im Stottertakt. Das komplette Auto vibrierte, während ich unbeirrt die Straße hochfuhr und im Sitz nach vorne und wieder nach hinten taumelte.

Zwischendurch schaffte ich es sogar ein Stück fehlerfrei zu fahren. Stolz hob ich den Kopf: „Geht doch.“

Dann kam das nächste Malheur. Die Ampel an einer Kreuzung in Fedderwardergroden zeigte rot. Ich ordnete mich ordnungsgemäß rechts ein, setzte den Blinker und trat auf die Bremse. Nachdem die Ampel wieder auf Grün umgesprungen war, fuhr ich zögernd an. Der Wagen machte einen großen Satz und der Motor war aus.

„Scheiße, abgesoffen“, mit hochrotem Kopf schaute ich aus dem Fenster, in der Hoffnung, dass niemand etwas mitbekommen hatte. Aber das Glück war wohl nicht auf meiner Seite. An der Ecke standen ein paar Jugendliche, die belustigt in meine Richtung schauten und dumme Gesten machten.

„Na toll, jetzt nur nicht nervös werden“, dachte ich, während sich Schweiß auf meiner Stirn breit machte.

Mein erster Versuch den Wagen wieder zu starten scheiterte kläglich. Inzwischen bekam die kleine Gruppe, die meine Situation intensiv verfolgte, sich nicht mehr ein vor Lachen.

Zweiter Versuch, wieder nichts. Das Hupen der wartenden Autos hinter mir, machte mich noch zusätzlich nervös. Verzweifelt sah ich in den Rückspiegel, dabei verriet mir mein Spiegelbild, dass ich eigentlich nicht blond war.

Mit zusammengebissenen Zähnen machte ich mich an den dritten Versuch. Es klappte, der Motor lief wieder. Gebannt starrte ich auf die Ampel. Hoffentlich ging jetzt alles gut. Diesmal war das Glück auf meiner Seite. Unbeschadet fuhr der Wagen um die Ecke. Wenige Minuten später hatte ich die Fahrschule erreicht.

Mike kam gerade aus der Fahrschule und sah sich suchend um. Ich stieg aus und winkte ihm zu.

„Hallo.“

Irritiert wechselte sein Blick vom Wagen zu mir und wieder zurück. Ich konnte förmlich sehen, wie viele kleine Fragezeichen um seinen Kopf tanzten.

Schließlich kam er näher, sah noch einmal auf den Wagen und sagte: „Hä???“

„Deine Mutter hat mich gebeten dich abzuholen“, informierte ich ihn.

Ohne weiteres Wort sah er mich an und deutete fragend auf den Escort.

Ich beantwortete die Frage mit einem nicht wissenden Schulterzucken. Wir stiegen ein und die Fahrt ging ruckelnd auf gleichem Wege zurück. Wie man auf einem Beifahrersitz vor Scham versinkt hatte er ja schon bereits in meinem Golf geübt.

Ich glaube, wir waren beide glücklich, als der Escort wieder unbeschadet auf der Auffahrt stand. Mike war allerdings auch so gütig, nie etwas von dieser Horrorfahrt zu erwähnen und Holger hat es sich verkniffen sein heiß geliebtes Auto nach meiner Fahrt zu begutachten.

Wenig später kam auch Alma wieder. Wir machten uns noch einen netten Abend und zu späteren Stunde machte ich mich auf den Weg nach Hause.

Fröhlich schloss ich die Tür meines kleinen Golfes auf und startete den Motor. Mit weniger PS war das Fahren doch gleich viel einfacher. Ohne großes Mucken fuhr mein Auto die Straße entlang.

Entspannt lehnte ich mich zurück, als vom Rücksitz eine bedrohliche Stimme zu mir nach vorne drang: „Fahr ganz ruhig weiter.“

Mein Herz machte vor Angst einen kleinen Aussetzer und ein kalter Schauer lief über meinen Rücken.  Jedes einzelne Haar in meinem Nacken stand gerade hoch. Die schlimmsten Bilder zogen in Gedanken an mir vorbei.  Was sollte ich bloß tun? Mutig glitt mein Blick zum Rückspiegel. Im Spiegelbild sah ich die dunkle Gestalt eines Mannes, dessen Umrisse mir seltsam bekannt vorkamen. Auch seine Stimme klang mir eigentlich nicht ganz fremd. Entschlossen schaltete ich die Innenbeleuchtung ein und sah nochmals in den Spiegel.

Auf dem Rücksitz kauerte mein Exfreund. Er hatte sich wohl heimlich in meinen Wagen geschlichen, wie auch immer er dort hineingekommen ist. Er wollte mich ein letztes Mal überreden, die Beziehung fortzuführen, aber dieses Thema war für mich endgültig erledigt. Nachdem ich mich von meinem ersten Schrecken erholt hatte, habe ich ihm gehörig die Meinung gesagt und was ich von dieser dummen Aktion hielt.

Holger allerdings hat mir bis heute nicht verraten, was ihn bewegt hat, mich an diesem  Montag mit seinem Wagen fahren zu lassen. Auf meine Frage, ob er von meinem Exfreund wusste oder ob die vielen Marotten meines Autos daran schuld waren, antwortete er immer nur mit diesem geheimnisvollen Lächeln.

 


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